Wenn sich zwei lange Jahre gar nicht so lange anfühlen

Rückschläge nach Verletzungen hat Nina Ortlieb bislang alle weggesteckt – und sogar stärker gemacht. Sportlich ist die 26-Jährige zurück in der Weltspitze, privat hat die Lecherin, wie sie selbst sagt, zu mehr Gelassenheit gefunden.
Oberlech Auf der Terrasse des Hotels Montana genießen die Gäste die Sonnenstrahlen der vorweihnachtlichen Tage, und auch Nina Ortlieb kostet die Ruheoase ihres Elternhauses in vollen Zügen aus. Noch am Abend zuvor war die 26-Jährige in Salzburg im Hangar 7 zu Gast bei “Sport und Talk” gewesen und hatte die Bilder ihres Sturzes in Crans Montana im Jänner 2021, jene aus dem Chirurgie- und Sportsanatorium von Dr. Christian Schenk bis hin zu ihrem Comeback mit dem sensationellen zweiten Platz bei der Abfahrt in Lake Louise am 3. Dezember 2022 visualisiert vor Augen gesetzt bekommen.

683 Tage liegen nunmehr bei der sympathischen Lecherin zwischen einem schmerzverzerrten und einem strahlenden Gesicht. Dazwischen war von ihr viel Einsatz und vor allem Geduld gefordert worden. Denn der Schmerz, so gesteht sie heute, war nicht allein körperlicher Natur. Zumal die Europacup-Gesamtsiegerin von 2018 schon früh lernen musste, mit Verletzungen umzugehen.


Ihre Patientenakte liest sich wie ein Krimi. Totalschaden in beiden Knien mit jeweils einem Patellasehnenriss, dazu ein Kreuzband-, Innenband- und Meniskus-Riss, zuletzt im Jänner 2021. Das ist jedoch nicht alles: Denn ein Oberarm-Trümmerbruch, Schambeinbruch, ein Bruch im Becken, zwei Sprunggelenks-Verletzungen, drei Brüche des Mittelhandknochens, eine Schulterluxation samt Knochentransplantation, eine Rippenfraktur sowie einige Brüche der Nase komplettieren Ortliebs Krankenakte.



Niemals die Liebe zum Sport verloren
Nina Ortlieb weiß also genau, wie es sich anfühlt im Krankenbett aufzuwachen. Wichtig für sie deshalb, dass ihr auch im Jänner 2021 mit Dr. Christian Schenk der Arzt ihres Vertrauens zur Seite stand. “Er kennt mich gut, vielleicht zu gut”, lacht sie und erinnert sich dabei an seine ersten Worte. Er habe ihr die Zuversicht gegeben, dass sie wieder Rennen fahren werde. Deshalb habe sie sich auch nie die Frage gestellt, weiterzumachen oder aufzuhören. “Mir war immer klar, dass ich weiter fahren möchte. In unserem Sport kann man auch das eine oder andere Jahr länger fahren. Deshalb habe ich mir gleich gesagt: Fahre ich halt ein Jahr länger.”

Verletzungen sind ein Teil ihrer Geschichte. Wichtig war Ortlieb stets, den Grund für eine Verletzung zu kennen. “Wenn man diesen kennt, dann ist es leichter, sich davor zu schützen, damit es nicht wieder passiert”, geht sie die Dinge ganz pragmatisch an. Heißt für sie soviel wie: “Wenn ich alles richtig mache, dann passiert es nicht.” So sei es ihr ein Leichtes gewesen, wieder Vertrauen zu gewinnen. Auch wenn der Weg zurück etwas länger als erhofft gedauert habe. Auf diesem gab es wichtige Momente für sie. Etwa die ersten Schwünge auf Schnee – im Dezember 2021. “Es war schön und irgendwie doch nicht”, blickt sie zurück. Denn zu diesem Zeitpunkt habe sie realisiert, dass der Winter anders als geplant verlaufen würde. “Deshalb war es nicht nur Erleichterung”, sagt sie heute.
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Wichtig sei gewesen, die Realität zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen. So hat sie die Zeit im Winter ohne Rennen vor allem für Krafttraining genutzt. “Das gab mir die Möglichkeit, die Frequenz zu erhöhen. Aber auch das Wechselspiel zwischen Be- und Entlastung war wichtig.” Diesbezüglich hat Ortlieb eng mit Sportwissenschaftlern zusammengearbeitet. Auch in Sachen Stabilität ging Ortlieb neue Wege. Zudem hat sie Gefallen an einer neuen Sommersportart gefunden: Wingsurfen – eine Mischform aus Kitesurfen, Windsurfen und Stand Up Paddling.


Ortlieb gilt heute als Stehauffrau, die selbst von sich sagt: “Es ist schön zu sehen, dass sich zu kämpfen auszahlt. Und das nicht nur im Spitzensport.” Deshalb will sie an ihr im Herbst 2020 abgeschlossenes Bachelor-Studium in Wirtschaft den Master dranhängen. “Vielleicht später berufsbegleitend”, sagt sie mit einer gewissen Gelassenheit. Eine Eigenschaft, die sie sich nicht zuletzt aufgrund der vielen Verletzungen angeeignet hat. “Man kann nicht alles bestimmen, sondern muss lernen zu akzeptieren wie es ist und die beste Lösung suchen.” Und so definiert sie Glück auf zwei Arten: “Guten Bedingungen am Renntag, denn die kann ich nicht beeinflussen”, sagt die Rennläuferin Ortlieb. “Zufriedenheit”, sagt sie als private Person und lächelt dabei vielsagend.

“Heute kann ich Dinge anders einordnen. Früher bin ich verzweifelt, wenn ich nicht meinen besten Tag erwischt habe. Heute bin ich froh, dass ich da bin, wo ich bin und das machen kann, was ich mache.”
Nina Ortlieb über Veränderungen


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