Rosa Träume in Lochau und Bayern

Lennard Kämna fährt beim Giro erstmals aufs Gesamtklassement. Der Wahl-Vorarlberger ist Boras heißeste Aktie.
Lochau, Raubling, Fossacesia Es ist ein unscheinbarer Bau in einer Nebenstraße in einem kleinen Ort in Oberbayern. Von außen sieht es aus wie eine Mischung aus Scheune und Betriebsgebäude. Doch in diesem Gebäude wird am Projekt Rosa geschraubt. Hier wird alles vorbereitet für die Titelverteidigung des Teams Bora-hansgrohe beim Giro d’Italia, der am Samstag in Fossacesia Marina an der italienischen Adriaküste gestartet wird.
Das Gebäude ist das Lager und die Werkstatt des einzigen deutschsprachigen World-Tour-Teams; von den Bora-Mitarbeitern wird es „Service Course“ genannt. Von hier aus werden die Bora-Fahrer ausgestattet, die an Rennen rund um den Globus teilnehmen. Zahlreiche Rahmen und Laufräder hängen an den Spanplattenwänden. „Jedes Fahrrad kostet 15.000 bis 18.000 Euro. Insgesamt haben wir Räder mit einem Wert im hohen sechsstelligen Bereich hier“, sagt Thomas Hörl, Head of Logistic bei Bora-hansgrohe. Über der Werkbank, auf der ein Mechaniker gerade das Rad von Aleksandar Vlasov zusammenschraubt, hängen zahlreiche Bilder von Bora-Triumphen der vergangenen Jahre. Häufig ist darauf der dreifache Weltmeister Peter Sagan zu erkennen. Der Slowake hat den bayrischen Rennstall allerdings bereits 2021 verlassen. Mit dem Abgang des Sprint- und Klassikerspezialisten hat sich die Philosophie des Rennstalls grundlegend geändert. Große Rundfahrten sind das neue Ziel der Raublinger, Teamchef Ralph Denk träumt vom Triumph bei der Tour de France.
Der Weg des Teams
Der ehemalige Amateurfahrer gründete den Rennstall 2010 zunächst als Kontinental-Team mit dem Namen NetApp. Bereits ein Jahr später stiegen die Bayern in die ProConti-Kategorie auf, 2012 fuhr der Hohenemser Matthias Brändle eine Saison für das Team NetApp. Als 2015 mit dem Küchenhersteller Bora ein deutscher Sponsor einstieg, begann Denk ein deutsch-österreichisches Nationalteam mit internationaler Verstärkung zu formen. Als den Bayern 2017 der große Coup mit der Verpflichtung des Superstars Sagan, der den amerikanischen Radhersteller Specialized mitbrachte, gelang, stieg die Mannschaft in die World Tour auf und nahm fortan an allen großen Rennen teil. Schnell folgten die ersten Erfolge. Die große Euphorie vermochte das Team in Deutschland und Österreich zunächst allerdings nicht auszulösen, zu sehr war der Radsport in der deutschen Wahrnehmung nach den Skandalen der 2000er-Jahre mit Doping verknüpft. Erst der vierte Rang des Ravensburgers Emanuel Buchmann bei der Tour de France 2019 ließ erahnen, dass auch in Deutschland die Begeisterung für den Radsport groß sein kann, wenn lokale Helden für Sternstunden sorgen.
Kämna ums Gesamtklassement
Das Versprechen Buchmann blieb anschließend vieles schuldig, mit Lennard Kämna drängt seit einigen Jahren ein neuer Stern an den deutschen Radsporthimmel. Buchmann und den Norddeutschen Kämna verbindet ihre Wahlheimat, beide haben unabhängig voneinander vor einigen Jahren in Lochau eine neue Heimat gefunden. Im Leiblachtal genießen sie die Anonymität, die guten Trainingsbedingungen und die steuerlichen Vorteile.
Im Vorjahr gelang Bora-hansgrohe der überraschende Coup beim Giro d’Italia mit dem Gesamtsieg vom Jay Hindley. Der Australier wurde dabei entscheidend unterstützt von Kämna, der sich neben Helferdiensten auch noch einen Etappensieg schnappte. In dieser Saison peilt Hindley eine Topplatzierung bei der Tour de France an, dafür ist der Weg frei für Kämna. Der gebürtige Bremer soll erstmals in seiner Karriere bei einer großen Rundfahrt ums Gesamtklassement fahren. Dass der 26-Jährige, der bereits 2014 Junioren-Welt- und Europameister im Zeitfahren geworden ist, erst jetzt den Sprung zum Rundfahrer macht, hat mit seiner Vergangenheit zu tun. Während seiner Profikarriere nahm er sich bereits zwei Mal aufgrund von mentaler und körperlicher Erschöpfung eine mehrmonatige Auszeit. Kämna stand an der Kippe zum Karriereende, doch der Wahl-Vorarlberger entschied sich zu einem erneuten Angriff auf die Weltspitze.
Beim Giro soll es nun klappen, Kämna ist neben Vlasov einer der zwei Bora-Kapitäne, die den Triumph von Hindley wiederholen sollen. „Seine Vorbereitung ist ideal verlaufen“, ist Teamchef Denk zuversichtlich, „die Formkurve passt.“
Allerdings stehen mit Primoz Roglic und Remco Evenepoel zwei Topfavoriten am Start, die auch in der Vorbereitung unantastbar wirkten.
Der passende Kopfschmuck
Zurück im „Service Course“ in der Nähe von Rosenheim. Alle Räder und Taschen für den Giro sind gepackt. Das Team schickt insgesamt zehn Fahrzeuge, darunter einen großen Reisebus und einen eigenen Küchentruck, nach Italien. Mit im Gepäck ist neben zahlreichen Trikotgarnituren auch ein Set an rosa-farbenen Helmen, passend zum rosa-farbenen Führungstrikot der Italienrundfahrt. In der obersten Schachtel liegt einer in Größe S, jener von Lennard Kämna.



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