Bevor uns die Luft ausgeht …
Fast unbemerkt ergeben sich von Zeit zu Zeit sporthistorische Momente, wie gegenwärtig bei den European Games in Krakau. Die Multisportivveranstaltung ist weder vor Ort noch medial ein Straßenfeger. Neben Traditionsdisziplinen wartet der europäische Olympiaableger aber mit Exotischem auf: Muay Thai, ein harter Kampfsport, mit, für westliche Hörgewohnheiten nerviger musikalischer Livemusikuntermalung oder Teqball, Fußball-Pingpong an gebogenem Tisch, erweitern das Sportuniversum mit erstaunlichen motorischen Delikatessen.
Die erstmalige Durchführung von Skispringen bei einem Sommersport-Großereignis ist ein echtes sportgeschichtliches Novum. Skispringer:innen könnten also prinzipiell und sportlich vollwertig sogar bei olympischen Sommerspielen teilnehmen? Ein Gedanke, der an dieser Stelle schon strapaziert wurde und jüngst vom norwegischen Trainer Alex Stöckl mit der Umdeutung von Skispringen vom reinen Skisport zum Abenteuersport belebt wurde. Zugegeben eine gewohnheitsbedürftige, aber frech vorausblickende Perspektive.
Das wahre Trägermedium unserer Sportart ist nicht Schnee, sondern die Luft. Luft im Sommer unterscheidet sich von jener im Winter temperaturmäßig, Konsistenz und Dichte sind verändert. Faktoren, auf die sich Skispringer:innen im Jahreslauf einstellen, ohne dass das Publikum etwas davon mitkriegt. Sollte dem Skisport irgendwann der Schnee zu knapp werden, die Luft wird unserem Sport sicher nicht so schnell ausgehen. In dieser Doppelbotschaft liegt der Anpassungsvorteil des Skispringens, das gleichzeitig zur „schnellsten olympischen Sommersportart“ ohne Motorantrieb würde.
Die spektakuläre Idee, die stillgelegte Skiflugschanze in Ironwood, USA, sommertauglich zu belegen, zahlt genauso in dieses utopische Szenario ein wie all die Projekte in Dubai oder Abu Dhabi, die schon über meinen Schreibtisch wanderten.
Skispringen hat bereits im November 2022 ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt, und das inmitten des allerorten von Schneemangel und Absagen schwer gebeutelten Skisports. Ein kostengünstiger, sportlich vollwertiger Weltcupauftakt in Wisla erfolgte pünktlich und erstmals ohne Schnee, mit Eisspur, Luft und Matte.
Die globale Medien- und Sportkommerzszene hält ohnehin nicht viel von althergebrachten Gewohnheiten: Tennis und Leichtathletik finden längst auch in der Halle und zu sämtlichen Jahreszeiten statt. Seit die Fußball-WM kurz vor Weihachten über die sandige Bühne in Katar ging, irritiert uns auch der „frühsommerliche“ Termin der Eishockey-WM mit ihrem Finale Ende Mai nicht mehr.
sport@vn.at
Anton „Toni“ Innauer ist Skisprung-Olympiasieger, war Skisprungtrainer und ÖSV-Sportdirektor. Heute als Buchautor und Vortragender tätig.
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