Das ist alles wahr!
Franziska, das Schulmädchen, erzählt mir aus einem Meter Entfernung:
„Du weißt ja, dass meine Mama und mein Papa geschieden sind, deshalb siehst du mich nur jede zweite Woche. Die wechseln sich ab. Meine Mama wohnt allerdings im nächsten Dorf, und weil ich ja nicht Bus- und Zugfahren soll, wegen dem Virus, habe ich mir vorgenommen, einmal zu Fuß von meinem Papa weg zu meiner Mama zu gehen. Eine Stunde und zehn Minuten. Habe ich mit meiner Uhr gestoppt. Übrigens, die Uhr kommt von meinem Papa, die hat er früher selber getragen, jetzt ist ein neues Armband dran, das mir passt. Manche aus meiner Klasse würden mich beneiden. Jetzt allerdings kann ich mit der Uhr nicht angeben, weil die Schule geschlossen ist. Ich sage also zu meinem Papa, er soll sich nicht sorgen, ich besuche nur die Mama. Sie weiß, dass ich komme, und sie wird mir meinen Lieblingskuchen backen, ohne Mehl, viel Schoki, sehr feucht. Ein Stück werde ich dem Papa mitbringen.
„Jetzt allerdings kann ich mit der Uhr nicht angeben, weil die Schule geschlossen ist.“
Ich ging also los und dachte mir, so leer überall, wo sonst die Leute herumstehen. Das ist alles wahr! Ich träume nicht. Ich gehe und gehe, ein Fahrradfahrer überholt mich, ein Hund begleitet mich ein kurzes Stück, so einer mit kleinen Ohren, sein Herr sagt zu mir: Bleib gesund! Das sagt man jetzt an Stelle von Heil oder Grüß Gott. Ich überlege mir, wie es wäre, nie mehr in die Schule zu gehen, ob ich mit dem, was mein Papa von den Lernblättern mir beibringt, genügt, um mich gescheit zu halten. Oder ob ich vielleicht verblöde. Mein Papa beruhigt mich. Wenn die Schule erst wieder einmal anfängt, dann, dann …
Ein Zitronenfalter fliegt vor mein Gesicht, ein zweiter. Es ist Frühling, Birnbäume blühen und Ziersträucher haben rosarote Knospen. Mein Papa wollte nicht, dass ich mit dem Rad fahre, er findet es zu gefährlich auf der Straße, ein Stück gehe ich nämlich dort, bevor ich die Abkürzung über die Felder nehme. Wenn wir ein Auto hätten, könnte er mich ja zur Mama fahren. Er würde mich vor dem Haus aussteigen lassen und wieder wegfahren. Die zwei reden ja nur das Nötigste miteinander. Ich mag sie beide, obwohl sie so stur sind. Am Abend wird mich meine Mama mit ihrem kleinen Auto, zu dem ich Spucknapf sage, nach Hause fahren. Mich dort abladen und wieder nicht den Papa begrüßen. Nur grüßen. Nein, das auch nicht. Ich werde sie heute fragen, ob ihr das nicht leid täte, wenn der Papa jetzt am Corona sterben würde und sie hätte ihm nie mehr ein Wort gesagt. Ich weiß schon, was sie sagen wird, er ist zu jung zum Sterben, es betrifft nur die Alten. Hätte ich noch Großeltern wäre das noch grausamer, als es eh schon klingt.“
„Du kannst mich ja einmal anrufen, wenn dir fad ist“, sage ich zu dem Mädchen, „dann erzähle ich dir am Telefon auch eine Geschichte.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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