Er glaubte alles
Das ist die Geschichte von Emil. Sie ist anscheinend wahr. Emil glaubte einfach alles. Erzählten ihm seine Mitschüler, dass im Gras hinter dem Schulhof eine Mamba gesehen worden sei, ging er hin, um nachzuschauen. Die Schüler sagten ihm, wenn du sie siehst und wenn sie dich sieht, bist du schon tot. Emil dachte, sehe ich sie, werde ich mit ihr reden, und sie wird mich nicht angreifen. Sagte ihm seine große Schwester, Emil, geh hinauf und schau, ob du noch schläfst, und wenn, dann weck dich auf, ging er hinauf und rief: Er ist schon aufgestanden. Sah er seinen Schatten, drehte er sich um und grüßte ihn.
„Die Leute dachten, Emil ist dumm, minderbemittelt, sagten sie untereinander.“
Die Leute dachten, Emil ist dumm, minderbemittelt, sagten sie untereinander. Er lernte gut und schnell, die Lehrer wunderten sich, ein dummer Bub konnte er nicht sein. Ein wenig seltsam. Er redete mit Hunden, die an ihm vorbeiliefen, sie blieben stehen und schauten zu ihm auf. Jede Katze ließ sich von ihm streicheln. Er fütterte die Rehe, und sie fraßen ihm aus der Hand.
Emil ist seit hundert Jahren tot. Geschichten, die über ihn in Umlauf kamen, unterschieden sich. Keine ist wie die andere. Es wurde bezweifelt, dass es ihn überhaupt gegeben hatte. Eine Urkunde beweist die Tatsache.
Mit zwanzig Jahren zog er nach Wien, um zu studieren. Er entschied sich für die Zoologie, er war in seinem Fach ein Phänomen. Gern ging er in den Zoo und redete mit den Affen. Die Schimpansen hatten es ihm besonders angetan. Er schaute mit ihnen in den Spiegel, und sie erkannten sich darin. Er beobachtete die Schimpansenmütter und hätte jedem Menschenkind so eine fürsorgliche Mutter gewünscht. Er machte Spaß mit den Affen, und sie krümmten sich vor Lachen. Er brachte ihnen kaputte Werkzeuge mit und die Affen reparierten sie.
Emil hatte sich einmal in eine Frau verliebt, eine Pflegerin im Zoo. Sie war für die Tiger zuständig. Einer, der ihr besonders am Herzen lag, wurde krank, und sie behauptete, wäre er frei, würde er wieder gesund.
Man las in der Zeitung, dass ein Tiger aus dem Zoo ausgebrochen sei, und Emil wusste, die Pflegerin hatte ihn freigelassen. Er wollte sie besuchen, da war sie nicht mehr da. Sie hatte gekündigt.
Emil verbrachte sein Leben mehr mit Tieren als mit Menschen, und mit vierzig Jahren starb er, woran, wusste niemand genau. Es gab viele Vermutungen.
Einer behauptete, er habe sich bei den Meerkatzen angesteckt. Ein anderer sprach von einem Selbstmord, traurig, weil die Menschen ihm nicht geglaubt hatten. Er hatte sie gewarnt. Wovor hatte er sie gewarnt? Jeder sagte etwas anderes.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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