Was ist schon eine Blume?
Und wenn sie auch gestohlen wurde, wie beurteilt der Herr im Himmel mein Vergehen?
Das Kommunionkind hatte das erste Mal gebeichtet und fand seine Seele so rein wie ein unbeschriebenes Blatt. Da aber wollte es den Versuch wagen und eine Sünde begehen. Es kam an dem einzigen Herrschaftshaus vorbei, das es kannte, und neben dem wunderbaren Garten beugte es sich über den Zaun und pflückte eine rosafarbene Pfingstrose. Der Stängel war zäh. Ein paar Schritte weiter schon warf es die Blume den Abhang hinunter. Der Kaplan hatte die Kommunionkinder gewarnt, wenn sie jetzt, in der sogenannten heiligen Zeit, eine Sünde begehen, dann! Was dann? Der Herrgott im Himmel würde mit seinem großen Finger auf die Sünderin zeigen und sie bestrafen.
„Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich die Sünde nicht mehr ertragen konnte, obwohl meine kleinen Sünden nach wie vor stattfinden.“
Es war nichts geschehen.
Nach sechzig Jahren fällt mir diese Szene wieder ein und auch die sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden fallen mir ein, denen ihr wertes Leben genommen wurde. Aus Grausamkeit. Genügte da ein gehobener Finger vom Herrgott, um aufzuzeigen, oder musste der Herrgott sich aufgeben, weil er es verabsäumt hatte, früh genug einzuschreiten?
Die gestohlene Blume, was für ein Witz! Aber die Versuchung, Böses zu tun, den Herrgott herauszufordern, war mein Gedanke gewesen. Zwar ein Kindergedanke.
Was für eine verschobene Dimension! Wieso fallen mir diese Querverweise ein? Sünde. Das Wort schreibe ich seit Langem wieder und habe es lange nicht mehr gedacht. Es ist eine Kategorie einer vergangenen Zeit.
Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich die Sünde nicht mehr ertragen konnte, obwohl meine kleinen Sünden nach wie vor stattfinden. Ich will kein Tugendbold sein.
Die Sünden der Kirche sind verbrämt und haben einen anderen Namen.
Die Nachricht von den sterblichen Überresten von Kindern kanadischer Ureinwohner in einem früheren katholischen Internat fallen mir wieder und wieder ein. Eine große Zahl.
In Kanada waren ab 1874 rund 150.000 Kinder von Ureinwohnern und gemischten Paaren von ihren Familien und ihrer Kultur getrennt und in kirchliche Heime gesteckt worden, um sie so zur Anpassung an die weiße Mehrheitsgesellschaft zu zwingen. Viele von ihnen wurden in den Heimen misshandelt oder sexuell missbraucht. Nach bisherigen Angaben starben mindestens 3.200 dieser Kinder.
Ich bin so naiv zu glauben, dass der Papst um Verzeihung bitten wollte, es ihm durch die vielen Prozeduren unmöglich gemacht wird.
Ich weiß nichts. Trotzdem.
Dies zu erzählen, war mein Bedürfnis.
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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