Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Bitte nicht totmachen.

VN / 09.03.2022 • 10:30 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Ein alter Mann hielt sich am Stiegengeländer fest und tapste vorsichtig ins Erdgeschoß. Er trug seinen Hochzeitsanzug, der ihm wieder passte, nachdem er viele Jahre sehr dick gewesen und dann im Alter wieder mager geworden war wie damals als junger Mann. Mager und faltig, wie das halt so ist. Seine Frau sah ihn an und wunderte sich. Er hatte die Anzugjacke zugeknöpft, kein Hemd trug er darunter, man sah seine eingefallene Brust mit dem Rest an Gefieder, das sie so gern gestreichelt hatte, damals.

Am Revers hatte der alte Mann mit einer Stecknadel einen Zettel geheftet, den abgerissenen Teil eines Briefkuverts, darauf stand:

BITTE NICHT TOTMACHEN.

Ich muss das erklären. Das Ganze hat nämlich eine Vorgeschichte. Mit sechzig und überstandener Krebskrankheit hatte sich der Mann im Bett seiner Frau anvertraut. Sie lag entfernt von ihm auf ihrem Schlafkissen. Er griff mit der Hand an ihre Schulter und sagte:
„Bitte, Gertrud, hast du einen Satz Zeit für mich?“
„Lass uns schlafen“, sagte sie, „es ist schon spät.“
„Nur ein Weilchen, bitte, Gertrud.“
Sie drehte sich um, so dass sie gerade auf dem Rücken lag, wandte sich aber noch nicht in seine Richtung. „Dreh dich zu mir um, Gertrud, ich weiß, ich bin kein schöner Anblick.“ Sie drehte sich also und schaute ihn an.

„Er sei der liebste Mann, trotz seiner Einschränkung, und er lebe wieder gern und ihr Essen, besonders der Scheiterhaufen, schmecke ihm.“

„Gertrud“, sagte er, „ich bitte dich um eines. Wie du siehst, und wie ich sehe und auch spüre, geht es abwärts mit mir, ich vergesse so viel und fühle mich nicht mehr dem echten Leben gewachsen. Du bist zwölf Jahre jünger. Also ich bitte dich inständig, solltest du an mir eine beginnende Demenz feststellen, lass mich sterben. Ich will das alles schriftlich machen. Wir können zu einem Notar gehen und das bestätigen lassen.“

Seine Frau atmete tief durch. Sie hatte sich an ihren Mann gewöhnt, über dreißig Jahre hatten sie gemeinsam verbracht, drei Kinder großgezogen, aus denen Ordentliches geworden war. Also nichts Gescheitertes, wie sie bei dem Großen zumindest befürchtet hatten. Die zwei Mädchen waren in guten Händen und hatten ihnen Enkel geschenkt – übrigens, wie ich finde, eine merkwürdige Formulierung. Verschenkt man Enkel? Jedenfalls waren die Kinder eine Freude für die Großeltern. Putzige kleine Menschen mit klebrigen Händchen.
„Also, Getrud, bitte, gib mir Antwort.“

„Nein“ sagte sie, „das mit dem Notar machen wir nicht. Wir warten ab. Dann können wir immer noch entscheiden, wenn es gar nicht mehr geht.“

Dann hatte der alte Mann plötzlich das Gefühl gehabt, dass gar nichts mehr geht. Die Frau hatte einen Termin bei einem Anwalt vereinbart.
Und dann, eben dieser Tritt über die Treppe. Mit dem Zettel auf seinem Revers. Gewiss, die Frau erschrak.

Sie machte alles rückgängig und war froh über ihre Entscheidung.
Er sei der liebste Mann, trotz seiner Einschränkung, und er lebe wieder gern und ihr Essen, besonders der Scheiterhaufen, schmecke ihm.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.