Thomas Matt

Kommentar

Thomas Matt

Was Dir keiner nehmen kann

VN / 09.03.2022 • 08:30 Uhr / 2 Minuten Lesezeit

Die Frau ist erschöpft. Sie wirkt irgendwie leer. Ihre Geschichte erzählt sie nicht zum ersten Mal. Vor ein paar Tagen hat sie die paar Habseligkeiten gepackt. Das ist jetzt alles. Ihr Mantel, ihre Schuhe, die gepflegten Hände erzählen von einem anderen Leben. Es war bis vor Kurzem noch in Ordnung. Nicht reich, aber in Ordnung. Und jetzt?

„Das Wichtigste“, sagt sie, „sind Deine Erinnerungen. Die kann Dir keiner nehmen.“ So ein uralter Satz! Er platzt mitten hinein in eine junge Gesellschaft, die sich eben anschickte, nach überstandener Pandemie wieder von Event zu Event zu hüpfen. Denn hier geht das. Hier ist jener Teil der Welt, in dem andere Zuflucht suchen. Uns selber fehlt die Erfahrung, über Nacht gehen zu müssen. Und das ist ein Glück.

Die Frau erfährt Hilfe. Sie hat nichts als ihr Danke. Und diesen Satz. Wer nicht gut hinhört, nimmt die Frage dahinter kaum wahr. Aber sie ist da. Sie lautet: Was würden wir mitnehmen, wenn wir eines Tages gehen müssten, ohne die Tür zuzusperren, weil sie wenig später ohnedies ein anderer eintritt? Was sind unsere Besitztümer, die uns niemand nehmen kann? Was würde unsere vertriebenen Herzen erwärmen? Was wäre nur Ballast?

Thomas Matt

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