Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Vom Singen und Sterben

VN / 17.05.2022 • 08:00 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Europa feiert sein gut gelauntes Musikfest in Turin und die Menschen in der Ukraine kämpfen um ihr Leben. Lebensfreude und Überlebenskampf, in der Social-Media-Timeline nebeneinander – und dazwischen gewinnt die ukrainische Band Kalush Orchestra am Samstag den Eurovision Song Contest in Turin. Es ist schon irritierend, eine der größten Partys des Kontinents zu erleben, während im Krieg bei den Nachbarn die Menschen sterben. Dass sich der Song Contest in seiner ganzen Inszenierung (inklusive kollektivem „Give peace a chance“-Absingen, John Lennon und Yoko Ono hätten ihre Freude gehabt) klar politisch positioniert und die Ukraine den Titel verdient gewinnt, kann den Widerspruch nicht ganz auflösen.

„Die glitzernde Song-Contest-Bühne, auf der sich mehr oder weniger künstlerisch Begabte am Abend des Finales ausleben, als Ort des Politischen.“

Die glitzernde Bühne, auf der sich mehr oder weniger künstlerisch Begabte am Abend des Finales ausleben, als Ort des Politischen. Die Solidarität vieler ist an diesem Abend bei den jungen Musikern aus der Ukraine, die einen dynamischen Auftritt hinlegen und sich den Sieg mit großem Vorsprung holen – sie sind die Lieblinge des europäischen Publikums, die nationalen Jurys haben sie zuvor auf den vierten Platz gesetzt. Ob die Ukraine unter anderen Umständen auch gewonnen hätte, ist an dieser Stelle völlig egal. Der Song Contest steht seit seinem Beginn 1956 für den Gedanken der friedlichen Völkerverständigung und die Menschen in der Ukraine können jede Geste, jede Unterstützung brauchen.

Der letzte Kampf

Dennoch, diese Gleichzeitigkeit von Spaß auf der einen und Krieg auf der anderen Seite hinterlässt eine Bitterkeit. Oleh Psjuk, Sänger der siegreichen Band, sagt am Samstag auf der Bühne: „Ich bitte euch alle: Helft der Ukraine, Mariupol und den Menschen im Asow-Stahlwerk – jetzt.“ Am Tag darauf schildern mehrere Ehefrauen der letzten ukrainischen Kämpfer in der Hafenstadt Mariupol die Zustände in dem von russischen Truppen belagerten Asow-Stahlwerk. Pro Person gebe es nur noch ein Glas Wasser am Tag, sagt eine der Frauen in einem Interview, aus dem ukrainische Medien zitieren. Manchen der verschanzten Kämpfer fehlten Arme oder Beine, es gebe kaum noch Medikamente oder Betäubungsmittel. „Sie bereiten sich auf den letzten Kampf vor, weil sie nicht an eine diplomatische Lösung glauben“, sagt die Frau.

Das Grauen des Krieges, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach dem Sieg des Song Contest wohl einmal kurz ausblenden will. „Unser Mut beeindruckt die Welt, unsere Musik erobert Europa! Im nächsten Jahr empfängt die Ukraine den Eurovision!“, meint Selenskyj auf Telegram. Die größte Show Europas nächstes Jahr im heute völlig zerstörten Mariupol – eine Vorstellung, die derzeit vor allem danach klingt: Verzweiflung und Sehnsucht.

Julia Ortner

julia.ortner@vn.at

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.