Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kein Mensch ist „sozial schwach“

VN / 21.06.2022 • 07:30 Uhr / 3 Minuten Lesezeit

„Sozial schwach“, wenn ich das schon höre. In der aktuellen Teuerungs-Debatte vergeht kein Tag, in dem sich nicht Politiker, Politikerinnen, Medienschaffende oder Auskenner aller Art um jene sorgen, die „sozial schwach“ sind und jetzt besonders unter den steigenden Preisen im Land leiden. Manchmal ist das auch gar nicht negativ gemeint, dennoch ist dieser Begriff unpassend. Denn nur weil Menschen mit kleinem Einkommen über weniger Ressourcen als Menschen mit hohem Einkommen verfügen, sind sie noch lange nicht „schwach“. Im Folgenden ein paar Gedanken rund um das Thema „soziale Schwäche“.

Wenig Geld zu verdienen, bedeutet auch, sehr gut organisiert sein zu müssen. Also dort einzukaufen, wo man noch günstigere Angebote bekommt oder jede notwendige Anschaffung penibel zu planen. Manche müssen auch zusätzlich zu ihrer Arbeit einen zweiten Job annehmen, weil das Haupteinkommen nicht ausreichen würde. Wer solche Herausforderungen täglich bewältigt, ist alles andere als „schwach“.

Menschen mit geringem Einkommen verfügen oft über hohe Resilienz. Diese innere Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, wollen alle in der modernen Wettbewerbsgesellschaft erlangen: noch ein Führungsseminar, noch ein Coaching, noch ein schlaues Buch, widerstandsfähig in die unkalkulierbaren Zeiten! Wer schon mit existenziellen Problemen konfrontiert war und sie lösen musste – wie wird sich die Miete ausgehen, was soll ich den Kindern gegen Monatsende zu essen geben, wie kann ich die kaputte Waschmaschine ersetzen? –, ist kein Schwächling.  

Eine Frage des Respekts

Aber auch die ausschließlich negative Deutung des Wortes „Schwäche“ ist diskussionswürdig. Jeder Mensch kann Phasen erleben, in denen er schwach und nicht stark ist, Schwäche als Teil des Menschseins zu leugnen ist absurd. Ob als kleine Kinder, in Krankheit, in Krisen oder gegen Ende des Lebens – irgendwann sind wir alle schwach und das ist keine Schande. Unbesiegbarkeit ist nur ein Konstrukt, aber das bitte nicht Leuten wie Tesla-Boss Elon Musk weitersagen.

Sich über andere zu erheben ist keine Nächstenliebe. Wenn sich Menschen mit gesellschaftlichem Einfluss für andere einsetzen und öffentlich Missstände ansprechen, ist das natürlich positiv. Sie könnten es allerdings sensibler und nicht auf diese Weise machen: Ich mit meinem Haus-Auto-Boot-Vermögen spreche jetzt über die Notlagen der anderen, die über kein Haus-Auto-Boot-Vermögen verfügen.

Und wenn man in seiner Argumentation gerne von Schwäche spricht, dann lieber von „einkommensschwachen Haushalten“, aber nicht mehr von „sozial schwachen“ Menschen. Weil das eben nicht den Tatsachen entspricht ­– und weil es eine Frage des Respekts ist.