“Hass verleiht ein Machtgefühl”

Reinhard Haller zu den dramatischen Folgen von Hass im Netz.
Feldkirch Der Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die von Corona- und Impfgegnern buchstäblich in den Tod getrieben wurde, hat das Land aufgeschreckt. Laut dem Psychiater Reinhard Haller zeigt dieser tragische Fall mit aller Deutlichkeit, was Hass im Netz tatsächlich anrichten kann.
Welche Gedanken sind Ihnen gekommen, als Sie von diesem Fall gehört haben?
Haller Es ist eine erschütternde Geschichte, und sie spricht dafür, dass sich Menschen in solchen Situationen alleingelassen fühlen. Suizid ist oft die Abwesenheit der anderen, heißt es. Der Fall zeigt aber auch, was Hass allgemein, vor allem aber Hass im Netz anrichten kann. Er belastet Menschen, stürzt sie in Krisen, macht sie psychosomatisch krank, treibt sie in die Sucht und in extremen Fällen auch in den Tod. Das ist ein großes Problem, das einer Regulierung bedarf.
Sie sagen, Hass im Netz ist ein weitverbreitetes Problem mit stark zunehmender Tendenz.
Haller Das hat unter anderem damit zu tun, dass Menschen, die sich nicht getrauen, zu ihrer Meinung zu stehen, im Internet ein ideales Betätigungsfeld finden. Dort müssen sie ihr Gesicht nicht zeigen, dort können sie ihre ganze Frustration ablassen, können unter dem Deckmantel der Anonymität sadistisch agieren. Es handelt sich in der Regel um Menschen, die sehr unsicher sind. Das Agieren im Netz vermittelt hingegen Machtgefühle und tut ihnen gut. Der Hass kann sozusagen indirekt ausgelebt werden, aber ich treffe den anderen trotzdem. Der Täter agiert auf einem nichtmenschlichen Niveau. Das macht diesen Hass so gefährlich.
Können Maßnahmen, wie sie in der Pandemie gesetzt wurden, tatsächlich zum Auslöser werden?
Haller Ich denke, die Coronamaßnahmen waren eine willkommene Gelegenheit, zu querulieren, paranoid zu agieren und sadistisch zu handeln. Es ist jedoch eine relativ kleine Gruppe. Wie gesagt, in der Regel sind es persönlichkeitsgestörte Menschen mit wenig Selbstvertrauen. Für sie ist das Internet eine ideale Spielwiese.
Was macht das mit Betroffenen?
Haller Es wird stark unterschätzt, wie schwer die Menschen so etwas trifft. Jeder von uns sagt, ich schau gar nicht hinein, und mir macht das nichts aus. In Wirklichkeit aber schaut man doch hinein und fühlt sich sehr gekränkt. Es zeigt sich auch da, wie kränkbar Menschen sind. Das ist die eine Seite. Das andere ist, dass diese Menschen allein und isoliert sind. Sie haben niemanden, der das Ganze weniger persönlich betrachtet. Dabei wäre es sehr wichtig, sich in solchen Situationen an Menschen zu wenden, die es neutraler einschätzen können. Wahrscheinlich hätte auch die Ärztin so jemanden gebraucht.
Könnte dieser Fall nur die Spitze des Eisbergs gewesen sein?
Haller Ich denke, dass es im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen sehr viele Opfer gegeben hat, aber manche Menschen sind resilient und haben ein gutes Umfeld, bei anderen äußert es sich in psychosomatischen Problemen. Der bekannt gewordene Fall weist die Gesellschaft jedoch mit aller Deutlichkeit darauf hin, was Hass im Netz anrichten kann, und deshalb darf es kein rechtsfreier Raum sein. Ein Aspekt, der ein bisschen verloren geht ist, dass das Netz auch große Hilfen bieten würde. Dass es nicht nur eine Spielwiese für Sadisten und Querulanten ist, sondern auch Unterstützung gibt. Aber das bedenkt man wohl zu wenig, wenn man sich so alleingelassen fühlt und verzweifelt ist.
Wie kann Hass im Netz verhindert werden?
Haller Wie man dagegen vorgehen kann, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Auf der einen Seite muss man die Freiheit des Netzes wahren, und man darf auch nicht vergessen, dass es ein wichtiger Puffer für Aggressivität ist. Das Netz fängt relativ viel davon ab. Diese Gratwanderung zu finden, die Freiheit zu bewahren und keinen rechtsfreien Raum zuzulassen, ist eine wichtige politische Aufgabe, die man weltweit lösen muss.
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