Autorin einer der berührendsten und größten Festspielerfolge gestorben

Dirigent Teodor Currentzis mit Zofia Posmysz und David Pountney 2010 nach der Premiere der Oper "Die Passagierin" bei den Bregenzer Festspielen. BF/Köhler
Zofia Posmysz hat die Vorlage für die Oper “Die Passagierin” von Mieczyslaw Weinberg geschaffen, die in Bregenz szenisch uraufgeführt wurde.
BREGENZ, WARSCHAU Zu den ergreifendsten Momenten im Rahmen einer journalistischen Tätigkeit zählt die Begegnung mit Menschen, deren Erfahrungen unsere Vorstellungskraft übersteigt. Zofia Posmysz wurde als 18-Jährige in Krakau festgenommen, weil sie sich mit Flugblättern gegen die Nationalsozialisten befasste. Nach der Verhaftung und nach Verhören folgte die Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die Konfrontation mit den Peinigern, die Grausamkeiten und das Lagerleben angesichts des Todes thematisierte sie später literarisch in einem Hörspiel und der Novelle “Die Passagierin”. Der Text, in dem sie ihre Aufseherin Anneliese Franz fiktiv dazu zwingt, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, diente Alexander Medwedew als Vorlage für das Libretto zur gleichnamigen Oper von Mieczyslaw Weinberg. Im Jahr 1968 fertiggestellt, wurde die Aufführung von Politfunktionären untersagt, die erste konzertante Präsentation fand nach dem Tod Weinbergs im Jahr 2006 in Moskau statt. David Pountney, damals Intendant der Bregenzer Festspiele, hat im Sommer 2010 die szenische Uraufführung ins Programm genommen und das Werk selbst inszeniert. Es ist einer der berührendsten und größten Erfolge in der Festspielgeschichte.

Einige Wochen vor der Uraufführung gab Zofia Posmysz den VN in Warschau ein Interview. Die Autorin und Zeitzeugin (geb. 1923) ist am 8. August 2022 verstorben. Ihre Antwort auf die Frage zur Entstehung des Werks an dem Ort, an dem sie sich damals mit dem Librettisten traf, bleibt präsent: “1959 habe ich ein Hörspiel geschrieben, ich habe beim Polnischen Rundfunk gearbeitet, in der literarischen Abteilung. Das Hörspiel wurde gesendet und hatte gute Rezensionen. Ein Jahr später hat das Polnische Fernsehen mir den Vorschlag gemacht, es zu einem Fernsehspiel umzuschreiben. Andrzej Munk hat Regie geführt. Kurze Zeit später hat er mich gefragt, ob ich einverstanden wäre, wenn man einen Film daraus macht. Ich hatte keine Ahnung, wie man ein Drehbuch schreibt. Munk meinte: ,Sie brauchen kein Drehbuch zu schreiben, schreiben Sie eine Novelle.’ Auf Grundlage dieser Novelle haben wir zu zweit das Drehbuch geschrieben. Der Film wurde dann in Angriff genommen. Leider ist Munk während der Dreharbeiten bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Etwa ein Jahr später hat Witold Lesiewicz, ein Freund von Andrzej Munk, sich bereit erklärt, den Film zu Ende zu bringen, und zwar auf die Weise, dass zu den schon gedrehten Szenen im Lager die Szenen auf dem Schiff mittels Fotos dazumontiert werden sollten. Ich habe nicht daran geglaubt, dass irgendein Regisseur den Film noch zu Ende bringen wird und habe deshalb die Filmnovelle einem Verlag vorgelegt. Weinberg hat dann Medwedew vorgeschlagen, ein Libretto zu schreiben. 1968 war das Werk bereits vollendet und dann gab es keine Erlaubnis, es aufzuführen. “

Zur Frage, ob sie damit einverstanden war, wie Medwedew die Figuren ihrer Novelle behandelt hat, hielt sie fest: “Ich habe es immer so verstanden, dass die Oper anderen Regeln unterliegt als die Prosa. Die letzte Version, die ich zusammen mit Medwedew in diesem Zimmer hier abgesprochen habe, war dann doch nicht die letzte. Ich habe das Libretto neulich noch einmal durchgeschaut. Der Unterschied ist tatsächlich sehr groß, aber die Idee und die Hauptpersonen sind erhalten geblieben und auch die psychologischen Vorgänge zwischen der SS-Aufseherin und Marta.”
Sie habe später Prozesse gegen SS-Aufseher und -Aufseherinnen verfolgt, erzählte Zofia Posmysz: “Das Hörspiel ist, wenn auch unbewusst, die Antwort auf die Frage, was ich gemacht hätte, wenn Aufseherin Franz angeklagt gewesen wäre.” Und: „Es gibt keine Möglichkeit, adäquat darzustellen, was dort passiert ist.“ In der Kunst hat Zofia Posmysz ein Ausdrucksmittel gefunden. Gegen das Vergessen hat sie sich bis ins hohe Alter in Gedenk- und Bildungseinrichtungen engagiert.

Die Bregenzer Inszenierung der Oper “Die Passagierin” durch David Pountney wurde von mehreren großen Opernhäusern übernommen und stand somit unter anderem in London, Tel Aviv, Chicago und Warschau auf dem Spielplan. Die Wiederentdeckung der Oper durch David Pountney führte zu stärkerer Befassung mit dem gesamten Werk des in Russland verfolgten Komponisten Weinberg, auch weitere Intendantinnen und Intendanten beschäftigten sich mit der “Passagierin”.

Die Oper Frankfurt realisierte vor sieben Jahren eine gute eigene Inszenierung. Wie in Bregenz konnte Zofia Posmysz damals noch bei der Premiere dabei sein. Vor zwei Jahren zeigte die Oper Graz eine höchst beachtenswerte Produktion, und erst vor wenigen Wochen realisierte auch das Tiroler Landestheater in Innsbruck “Die Passagierin”, ein Werk, das eines bleibt, das benötigt wird und präsent zu halten ist.