Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Der Lehrer

VN / 15.03.2023 • 06:30 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Der Lehrer lehrte in einem Außenbezirk – Volksschule. Zwei Drittel der Schüler waren Flüchtlingskinder, konnten kaum oder gar kein Deutsch. Eine Dolmetscherin kam zweimal in der Woche, um das Knäuel zu entwirren. In der ersten Klasse waren die Schüler noch scheu und folgsam, in der zweiten schon teilten sie sich zu Grüppchen: Tschetschenen zu Tschetschenen, Syrer zu Syrer und die gegeneinander. Sie hatten schon viele Tote gesehen, einer davon hatte sogar einen Feind erschossen. Türkenkinder gaben sich wie Österreicher und verteidigten ihr neues Land. Es gab Waffen. Scheren, Messer. Wobei Scheren die gefährlichsten waren, weil so harmlos aussehend wie ein Lernmittel. Also bedrohten die einen mit den Scheren die anderen. Es gab Verletzte. Stechwunden, auf die Entzündungen folgten. Polizei in der Schule. Eltern wurden herbeigebeten, um ihre gewalttätigen Kinder abzuholen und zu Hause zu bändigen. Sie verstanden die Sprache nicht.

„Wehe, dem Lehrer würde die Hand ausrutschen, wehe, er würde die Kinder auseinanderreißen.“

Der Lehrer stand in der Mitte des Klassenzimmers und fuchtelte mit seinen langen Armen. Er wurde laut, schreien konnte er nicht, von Natur aus nicht. Es war eine Unmöglichkeit, die Kinder zu beruhigen. Der Direktor kam und sagte, da müsse man durchgreifen. Aber wie? Wehe, dem Lehrer würde die Hand ausrutschen, wehe, er würde die Kinder auseinanderreißen. Schon berühren wäre zu viel. Er verzweifelte an seinem Beruf. Er war Lehrer geworden, um zu lehren.
Wenn ich geschrieben habe, es „war“ einmal ein Lehrer, so heißt das, dass er den Lehrerberuf aufgeben musste. Er begab sich in Therapie. Er sagte zu seiner Frau: „Ich bin nicht mehr der, der ich einmal gewesen bin.“

Sie konnte das nur bestätigen. Er saß zuhause herum wie ein Kranker und weinte oft. „Warum weinst du?“, fragte seine Frau. Er konnte nur seinen traurigen Kopf schütteln.

Seine Frau riet ihm, es an einer Privatschule zu versuchen, da ginge es disziplinierter zu, hatte sie sich sagen lassen. Aber der Lehrer wollte kein Lehrer mehr sein. Überhaupt in keinem Beruf arbeiten wollte er mehr, der mit Kindern zu tun hatte. Vielleicht Verkäufer in einem Schuhgeschäft. Das fiel im ein, als er das Schild im Schaufenster sah – „Verkäufer gesucht“. Würde er eben vor der Kundschaft auf die Knie fallen. Da hatte man sich auf den Kundengeschmack und die Schuhe zu konzentrieren und wurde nicht gedemütigt.

„Willst du denn unter deinem Niveau arbeiten!“, ärgerte sich seine Frau. Vielleicht könnte er Briefträger werden oder Hausmeister. Aber erst mussten sich seine Nerven beruhigen. Dann würde er an sich arbeiten, am Abend viel lesen und vielleicht, wie er sich erträumte, Privatgelehrter werden.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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