Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Das Vögelchen

VN / 11.05.2023 • 11:30 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Ein chinesischer Herr von ziemlicher Berühmtheit besuchte in offizieller Mission einen Kollegen in Europa. Der hatte ihn in seine vornehme Wohnung im 7. Stock zu einem feierlichen Essen eingeladen. Da passierte dieses Missgeschick mit dem Lift. Er streikte. So mussten schnellstens zwei starke Männer gefunden werden, die den zarten alten Chinesen in den siebten Stock trugen. Geschenke folgten. Es waren sieben Pakete, in Seidenpapier gewickelt. Auch diese trugen die starken Männer in die gemütliche Wohnung, in der es fabelhaft nach Essen roch. Die Gattin des bekannten Gastgebers hatte sich im Auswärtigen Amt kundig gemacht, was denn so ein zarter Staatsmann für Vorlieben habe. Ihr wurde mitgeteilt, er bevorzuge die jeweiligen Speisen des Gastlandes. Daraufhin beschloss die Dame des Hauses, selbst zu kochen, zusammen mit einer Kochgehilfin, wobei sie die eigentliche Spezialistin war, eine Hausfrau mit fünf Kindern, berühmt für ihre Hausmannskost. Zur ersten Vorspeise war eine klare Rindssuppe mit frischen Fritatten vorgesehen, zur zweiten Vorspeise ein knackiger Vogerlsalat, zur Hauptspeise Zwiebelrostbraten mit Erdäpfelrösti.

„Beide Frauen schwirrten um das Vögelchen, sodass es Angst bekam und aus dem Fenster flog.“


Die Kochhilfe fragte: „Mag er denn Zwiebeln, der fremde Herr?“
Die Dame des Hauses hatte extra nachgefragt – Zwiebeln liebe der feine Herr.
„Sind Sie denn nicht wunderig, was in den vielen Geschenkpaketen drinnen ist?“, fragte die Kochhilfe weiter.
Die Dame des Hauses sagte: „Und ob! Aber ich weiß nicht, wie es sich mit Geschenken von berühmten Chinesen gehört, man darf den feinen Herrn nicht vor den Kopf stoßen, versteh das, Berta!“
„Ja, aber wenn wir es kaum aushalten und nur das Kleinste öffnen, das wird nicht auffallen.“

Die Dame des Hauses ließ sich überreden, und so reichte sie Berta das mit Goldfolie eingepackte kleinste Paket. Es war so leicht! Berta rieb ihre Hände an der Schürze ab. Derweil saßen der Hausherr und sein feiner Gast im besten Zimmer. Man lauschte zu leiser Mozartmusik.
Berta öffnete das Geschenk, und da hörten die beiden Frauen ein Piepsen, und ein Vögelchen, klein wie ein Kolibri, flog auf.
„Mein Gott!“, stöhnte die Dame des Hauses, „was machen wir jetzt? Berta, du musst es einfangen!“

Beide Frauen schwirrten um das Vögelchen, sodass es Angst bekam und aus dem Fenster flog.
„Das werden sie mir nie verzeihen“, klagte Berta. „Wir müssen so tun, als wäre das kleinste Geschenk nie da gewesen.“
Und eifrig begannen die beiden Frauen den Kuchen zu rühren, er sollte eine Sensation sein, sollte das schlechte Gewissen aufwiegen, diese Sachertorte mit dem samtenen Schokoladeüberzug.
Wenn gesagt wird, das Essen schmeckte über alle Maßen köstlich, ist es nicht übertrieben. Nach Kaffee und Whisky zeigte der zarte Chinese auf die Geschenke und sagte – verdolmetscht:
„Zuerst das Größte.“

Die Hände zitterten, als die Dame das Silberpapier abschälte und ein wunderfeiner Vogelkäfig zum Vorschein kam.
„Und jetzt das Kleinste, in der Goldfolie.“
Das war aber nicht da. Verschwunden. Verloren. Der zarte Herr war darüber untröstlich. Er senkte seinen greisen Kopf, und eben in diesem Augenblick flog ein winziges Vögelchen draußen am Fenster vorbei.

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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