Behindertenanwältin Steger: “Das Bildungssystem ist diskriminierend”

Politik / 15.05.2023 • 16:30 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Behindertenanwältin Steger: "Das Bildungssystem ist diskriminierend"
Eine Reform des Bildungssystems ist Christine Stegers (r.) großes Ziel, engstens damit verknüpft seien nämlich vor allem die Berufsmöglichkeiten danach. Canva/pixelshot, VN/Maximilian Werner

Christine Steger (43), die erste Frau an der Spitze der österreichischen Behindertenanwaltschaft, hat Großes vor.

Wien An ihrem eigenen Büro hat Christine Steger zumindest in einer Hinsicht nichts auszusetzen: Vom Portier führen zwei rollstuhlgerechte Rampen zum Aufzug. Es ist auch im Sitzen möglich, den Knopf für den 4. Stock zu drücken. Akustische Signale helfen, sich zurechtzufinden. Das Gebäude in der Wiener Innenstadt ist frei von Barrieren. Zumindest wenn es nach der Definition geht, welche die neue Behindertenanwältin durchzusetzen versucht.

Es gelte wegzukommen vom Modell, das den Grad der Behinderung anhand der Abweichung von der Norm misst, hin zu einer sozialen Grundlage: “Meine Oberschenkelprothese wäre also die Beeinträchtigung. Die Behinderung ergäbe sich aber erst dann, wenn der Lift nicht funktioniert und ich zu Fuß in den 4. Stock muss”, erklärt die 43-Jährige. “Es darf nicht um eine Verantwortung des Individuums gehen, sondern um eine kollektive gesellschaftliche. Wenn ich das noch erlebe, wäre das super”, gibt sich Christine Steger im Gespräch mit den Vorarlberger Nachrichten kämpferisch.

Im Gespräch mit den Vorarlberger Nachrichten gibt sich Christine Steger kämpferisch. <span class="copyright">VN/Maximilian Werner</span>
Im Gespräch mit den Vorarlberger Nachrichten gibt sich Christine Steger kämpferisch. VN/Maximilian Werner

Erste Frau im Amt

Sie ist die erste Frau an der Spitze der Behindertenanwaltschaft, nach einem Verkehrsunfall und der anschließenden Amputation ihres linken Beins selbst beeinträchtigt. Vor zwei Monaten wurde die Spitzenkandidatin der Salzburger Grünen für die Nationalratswahl 2017 von Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) zur Nachfolgerin des im Amt verstorbenen Hansjörg Hofer bestellt.

Die nach einer öffentlichen Ausschreibung als “im höchsten Maße geeignet” Bewertete war bisher Vorsitzende des Monitoringausschusses, der über die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wacht. In Fachkreisen ist die Abteilungsleiterin für “Family, Gender, Disability & Diversity” an der Universität Salzburg unbestritten anerkannt. Und trotz – oder womöglich gerade wegen – ihrer parteipolitischen Vergangenheit spart sie nicht mit Kritik an der türkis-grünen Bundesregierung.

Anfang März 2023 wurde Christine Steger (r.) von Sozialminister Johannes Rauch (l.) als neue Behindertenanwältin Österreichs bestellt. <span class="copyright">BMSGPK/Udo Mittelberger</span>
Anfang März 2023 wurde Christine Steger (r.) von Sozialminister Johannes Rauch (l.) als neue Behindertenanwältin Österreichs bestellt. BMSGPK/Udo Mittelberger

Ambitionierte Themen, zu langsam umgesetzt

“Man muss sagen, dass es sehr ambitionierte Themen waren, die die Regierung aufgegriffen hat”, sagt Steger. Die Pandemie habe die Lage erschwert, aber: “In anderen Bereichen ist die Arbeit auch weitergegangen.” Themen rund um die Inklusion von Menschen mit Behinderung würden zwar langsam behandelt – nun etwa jenes der “Persönlichen Assistenz” -, am Umsetzungsstand der Konvention zeige sich aber der große Nachholbedarf: “Jetzt steht eine Staatenprüfung vor der Tür, und da haben wir eine Fallhöhe von zehn Jahren seit der letzten.”

Die Handlungsempfehlungen aus 2013, die vor allem einen Institutionsabbau, den Föderalismus und das Schulsystem betreffen, hätten nicht ausreichend Anklang gefunden: “Es ist viel passiert, aber auch sehr vieles nicht. Das sind drei Bereiche, die sich zehn Jahre später nicht substanziell verbessert haben”, befürchtet Steger schon das Ergebnis der Prüfung ab August.

Angesichts der weiterhin kaum umgesetzten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen kommt viel Arbeit auf die neue Behindertenanwältin Christine Steger zu. <span class="copyright">VN/Maximilian Werner</span>
Angesichts der weiterhin kaum umgesetzten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen kommt viel Arbeit auf die neue Behindertenanwältin Christine Steger zu. VN/Maximilian Werner

Bildungssystem mit Nachholbedarf

Im Bildungssystem gebe es großen Nachholbedarf. Immer noch sieht Steger zwischen Sonderschulsystem und immer wieder verweigertem 11. und 12. Schuljahr – Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben darauf keinen Rechtsanspruch – eine Art Teufelskreislauf: “Menschen mit Behinderung werden oft als ‘arbeitsunfähig’ abgestempelt. Damit ist nur noch die Behindertenhilfe zuständig.” Und das Resultat sei dann ebenso klar; es gehe in Richtung Werkstätte und geordneter Tagesstruktur, sozialrechtlich nicht abgesichert: “Das ist natürlich keine Überraschung, wenn man keinen Abschluss hat, wenn man nicht spezifisch ausgebildet wurde, wenn man nicht bei allen Bildungsangeboten unbedingt barrierefreie Bedingungen vorfindet.”

Noch ein bisschen kafkaesk wirke die ganze Situation auf sie, sagt Christine Steger über ihr neues Büro. <span class="copyright">VN/Maximilian Werner</span>
Noch ein bisschen kafkaesk wirke die ganze Situation auf sie, sagt Christine Steger über ihr neues Büro. VN/Maximilian Werner

Und wie lässt sich dieses Problem lösen? Laut Steger nur mit einer inklusiven Schule – oder wie sie es ausdrückt: einer “Sonderschule für alle”. Dabei würden Kinder mit Behinderung die klassische Volksschule besuchen, ausgestattet mit perfekten Bedingungen für alle Kinder: “Mit allen barrierefreien Vorkehrungen, die notwendig sind: organisatorisch, physisch, räumlich und mit Unterstützungsleistungen.” Denn aktuell sei das österreichische Bildungssystem einfach diskriminierend.

Dazu gehöre aber auch die Ausbildung von Lehrpersonen. Das eigene Lehramtsstudium für Sonderpädagogen wurde 2015 gestrichen und auf einzelne Kurse in der “normalen” Ausbildung umgestellt. Seither würden Fachkräfte fehlen, weil diese Module weniger gewählt würden, sagt Steger. “Wenn Lehrkräfte sagen, dass sie nicht mit behinderten Kindern arbeiten könnten, dann können sie einfach nicht mit Kindern arbeiten. Punkt.”

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