Straftaten von Jugendlichen nehmen zu: Zufall oder besorgniserregender Trend?

VN / 28.05.2023 • 10:00 Uhr / 11 Minuten Lesezeit
Die Polizeidienststelle ist nicht weit entfernt. VN/GS

Zahlen, Hintergründe und Experten-Meinungen zur Gewaltbereitschaft junger Menschen.

Schwarzach Messerangriff, Banküberfall, Tankstellenraub: 2023 ist noch kein halbes Jahr alt und schon hat es eine Vielzahl von Gewaltverbrechen Jugendlicher gegeben. Reiner Zufall oder ein besorgniserregender Trend? Die VN haben sich auf Spurensuche begeben.

Sicherheitsbeamte kontrollieren den Bahnsteig in Dornbirn. VN/GS

Rückblick

Der wohl krasseste Fall passierte Anfang April. Drei Jugendliche gingen am Bahnhof Dornbirn mit einem Messer auf einen 32-jährigen Iraker los. Die Täter waren gerade einmal 15 Jahre alt. Zwei Tatverdächtige waren schnell gefasst, der dritte stellte sich wenige Tage später. Der 32-Jährige kam mit mehreren Stichverletzungen im Rücken ins Krankenhaus. Er musste notoperiert werden und überlebte.

Der Bahnhof und sein Vorplatz sind stark frequentiert. VN/Plesch

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Drei Wochen später der nächste Aufreger: Zwei Jugendliche hantierten am Bahnhof mit einer Waffe. Polizeibeamte rückten an und stellten fest, dass es sich um eine Faustfeuerwaffe, eine sogenannte Softgun handelte. Einer der Täter ist 15 Jahre alt und wurde angezeigt, der andere ist sogar erst 13 und noch nicht strafmündig.

Mehrere Vorfälle gab es heuer bereits am Bahnhof. VN/RAUCH

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Ende April folgt die nächste Straftat. Ein Unbekannter betrat mit Kapuze über dem Kopf eine Sparkassen-Filiale in Feldkirch-Gisingen. Er soll sich direkt in den Kassenbereich begeben und Geld von der Bankangestellten gefordert haben. Bewaffnet war er offenbar nicht. Schließlich soll er das Geld selbst an sich genommen haben. Dann machte sich der Unbekannte aus dem Staub, bis heute fehlt jede Spur von ihm. Zeugenaussagen zufolge könnte es sich aber erneut um einen Jugendlichen gehandelt haben.

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Zu einem weiteren Vorfall, der sich Anfang Mai ereignete, soll es laut Polizei aber keinen Zusammenhang geben. Ein 17-jähriger Jugendlicher, arbeits- und obdachlos, einschlägig vorbestraft und amtsbekannt, steht im Verdacht eines Raubüberfalls. Der junge Mann soll maskiert und mit einem Cuttermesser bewaffnet eine Tankstelle in Feldkirch überfallen haben. Kurz nach der Tat wurde er von der Polizei festgenommen.

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Zu einer schockierenden Tat kam es außerdem auf einer Zugfahrt zwischen Hohenems und Götzis. Ein 18-Jähriger und ein 17-Jähriger, beide total betrunken, schlugen in den Morgenstunden des 1. Mai auf mehrere Männer ein. Einen 53-Jährigen prügelten sie krankenhausreif. Erst als die Polizei kam, löste sich die Situation.

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Zahlen

Diese fünf Vorfälle passierten alle innerhalb von gut einem Monat. Ob sich ein neuer Trend abzeichnet, kann die Polizei aber noch nicht sagen. Die aktuellen Zahlen werden erst im April 2024 veröffentlicht.

Sehe man sich aber den Vergleich der vergangenen zehn Jahre an, so liegen die Werte laut Bundeskriminalamt (BKA) österreichweit wieder auf dem Vor-Corona-Niveau (siehe Tabelle). “Bei den 10- bis 14-Jährigen gab es einen Anstieg.” In Vorarlberg haben die Zahlen – abgesehen von den unter 10-Jährigen – dieses Niveau noch nicht erreicht.

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“Bei der Steigerung darf man per se nicht von einer reinen Steigerung an Delikten ausgehen”, teilt das BKA mit. Aufgrund von Sensibilisierungsmaßnahmen in diversen Bereichen, zum Beispiel bei Lehrkräften, seien in den vergangenen Jahren verstärkt Anzeigen erstattet worden. Zudem hat die Digitalisierung Auswirkungen auf strafbare Handlungen von Unmündigen und Jugendlichen. Dazu zählen nämlich auch das Verschicken von Nacktaufnahmen von Freunden oder verbotenen Inhalten sowie Drohungen per WhatsApp.

Straftaten von Jugendlichen nehmen zu: Zufall oder besorgniserregender Trend?
Gewalt von Jugendlichen: Zufall oder Trend? VN/GS, Neustart, Koje

Ein Blick auf die Gesamtkriminalität in Österreich zeigt, dass das Vor-Corona-Niveau auch hier wieder erreicht beziehungsweise schon überschritten ist. 2019 waren es 488.912 Anzeigen und 2022 schon 488.949.

Erstattete Anzeigen in ganz Österreich aus der polizeilichen Kriminalstatistik 2022. <span class="copyright">Bundeskriminalamt</span>
Erstattete Anzeigen in ganz Österreich aus der polizeilichen Kriminalstatistik 2022. Bundeskriminalamt
Die Gewaltkriminalität hat 2022 ein Zehn-Jahres-Hoch erreicht. <span class="copyright">Bundeskriminalamt</span>
Die Gewaltkriminalität hat 2022 ein Zehn-Jahres-Hoch erreicht. Bundeskriminalamt
2119 Raubdelikte gab es 2022. <span class="copyright">Bundeskriminalamt</span>
2119 Raubdelikte gab es 2022. Bundeskriminalamt

“Es gibt nicht das eine Messinstrument, man muss das ganzheitlich betrachten”, sagt Johannes Pircher-Sanou (34). Er leitet den österreichweit tätigen Verein Neustart in Vorarlberg. 24 Sozialarbeiter setzen sich in den drei großen Bereichen Resozialisierungshilfe, Opferunterstützung zum Beispiel in Form von Prozessbegleitung und Präventionsarbeit ein. Ziele des Vereins sind es, die Kriminalität zu verringern, Straftäter wieder zu integrieren und sich für Bewährungshilfe statt Haft einzusetzen.

Johannes Pircher-Sanou leitet den Verein Neustart in Vorarlberg. <span class="copyright">Neustart/Dominic Kummer</span>
Johannes Pircher-Sanou leitet den Verein Neustart in Vorarlberg. Neustart/Dominic Kummer

Interessant für Pircher-Sanou sind zum Beispiel die angezeigten Gewaltdelikte von Jugendlichen in Vorarlberg. 2021 seien das 372 gewesen – der niedrigste Wert seit 2013. 2019 waren es noch 574. Bei den Verurteilungen Jugendlicher zeigt sich ein ähnlicher Trend. 2021 waren es 59 und damit der zweitniedrigste Wert seit 2013 (2017 waren es 50). Bei den anerkannten Schülerunfällen aufgrund von Gewalt lag die Zahl 2022 bei 48 – und damit unter dem Schnitt von 2013 bis 2019, der etwa 50 betrug. Die Zahlen von 2020 und 2021 taugen als Vergleichswerte nicht, da es wegen Corona zu wenig Unterricht gab.

Genau da könnte ohnehin eine Schwierigkeit bei der Bewertung der Zahlen liegen. Durch Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Homeschooling fand in den Pandemie-Jahren über Monate kein normaler Alltag statt. Als Vergleichswerte sind die Zahlen von 2020 bis 2022 also mit Vorsicht zu genießen. Zudem sind die Zahlen von 2021 mittlerweile wohl kaum noch aktuell.

Eine Dunkelfeldstudie aus der Schweiz von Oktober 2022 zeige laut Pircher-Sanou, dass in den vergangenen acht Jahren der Anteil jugendlicher Kriminalität in etwa gleichgeblieben ist. Eine Zunahme habe es bei Diebstahl und Vandalismus sowie bei Raub gegeben. Sonst sei das Niveau aber stabil.

Hintergründe

Eine Veränderung der Jugendlichen stellt Thomas Dietrich (33) fest – und zwar in den Jugendhäusern. Denn Dietrich ist Geschäftsführer des Koordinationsbüros für Offene Jugendarbeit und Entwicklung (koje) in Vorarlberg. Etwa 180 hauptamtliche Jugendarbeiter bieten im Ländle ein niederschwelliges Angebot, sei es in den 62 Jugendtreffs, durch mobile Jugendarbeit oder Projektarbeiten wie Reisen und Präventionsangebote.

Koje-Geschäftsführer Thomas Dietrich.<span class="copyright"> koje/Ohr-Renn</span>
Koje-Geschäftsführer Thomas Dietrich. koje/Ohr-Renn

Die Veränderung gehe dabei in ganz unterschiedliche Richtungen. Manche Jugendliche würden sich zunehmend zurückziehen, bei anderen würden dagegen Konflikte viel schneller eskalieren. Dem Großteil gehe es aber gut. “Jugendliche sind keine homogene Gruppe”, sagt Dietrich. Auf der anderen Seite seien für die Sozialarbeiter psychische Erkrankungen stärker spürbar, Studien belegen das.

Die Hintergründe dafür sind vielfältig. Einerseits gibt es die Herausforderungen, die jede Generation Heranwachsender durchlebt hat. Das Gehirn verändert sich, die Hormone spielen verrückt. “Eine Lebensphase, die von Umbrüchen geprägt ist”, nennt der 33-Jährige das. Jugendliche lösen sich vom Elternhaus, Freunde werden nun wichtige Bezugspersonen, es geht um die erste Liebe, sexuelle Erfahrungen, ums Weggehen und Freiheit durch neu gewonnene Mobilität. “Super interessant mit so vielen unterschiedlichen Themen – deshalb macht Jugendarbeit auch so viel Spaß.”

Doch in den vergangenen Jahren haben sich noch mehr Aufgaben für die junge Generation entwickelt. Dabei spielen gewiss auch die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie eine Rolle. “Eine Hypothese ist, dass das soziale Training in dieser Zeit nicht möglich war und nun wieder aufgebaut werden muss”, erklärt Dietrich.

Die markantesten Veränderungen im Vergleich zu vor 20 Jahren sind für den Sozialarbeiter aber das Smartphone und die sozialen Medien. “Die soziale Bühne ist dadurch permanent da”, sagt Dietrich. Die Anforderungen an die heutige Jugend seien recht hoch. Dazu kommen Ängste zum Weltgeschehen wie die Klima-Krise zum Beispiel.

Die sozialen Medien wie Instagram erhöhen den Druck auf Jugendliche. <span class="copyright">Reuters</span>
Die sozialen Medien wie Instagram erhöhen den Druck auf Jugendliche. Reuters

“In Corona wird meiner Meinung nach zu viel reininterpretiert”, sagt dagegen Johannes Pircher-Sanou. Die Polizei habe mehr kontrolliert, es gebe aber keinen beunruhigenden Trend bei Gewaltdelikten. Sicherlich seien Schulschließungen und der Lockdown für Jugendliche total schwierig gewesen. Zu Hause gab es Konflikte auf engstem Raum. Diese Herausforderungen habe er auch in der Betreuung gemerkt. “Wir sind dann spazieren gegangen, das durften wir”, berichtet er von den Zeiten der Kontaktsperre. Klar ist aber auch: “Jeder Einzelfall ist einer zu viel, darauf muss man natürlich reagieren.”

Ausblick

Für Dietrich geht es nun darum, welche Unterstützung wir als Gesellschaft zur Verfügung stellen können, um den Heranwachsenden andere Perspektiven zu ermöglichen. “Wir müssen soziale Übungsräume schaffen und einen Zugang zu Gesundheitsangeboten”, sagt er. Die Jugendlichen seien stark und interessiert. “Während Corona hieß es immer, wir dürfen die Jugend nicht vergessen, die musste viele Entbehrungen auf sich nehmen, und ich denke, jetzt ist genau die Zeit, dass man sie nicht vergisst.”

Seit 2021 ist die Offene Jugendarbeit mit der Polizei dran, die Gelder aufzustocken, um die Präventionsarbeit auszubauen. Und laut Dietrich scheint es, als würde es den Zuschlag vom Ministerium bald geben. Da gehe es um Suchtmitteldelikte, Vandalismus und leichte Körperverletzung.

Aufgrund Ihrer Datenschutzeinstellungen wird an dieser Stelle kein Inhalt von Iframely angezeigt.

Bei den geschilderten brutalen Fällen handle es sich um eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen. “Es geht um eine gewisse Ohnmacht gepaart mit biografischen Vorfällen und einer Perspektivlosigkeit”, erklärt der koje-Geschäftsführer. “Man muss die Einzelfälle betrachten.”

Da erreiche man mit Prävention und Pädagogik nicht mehr allzu viel. Vielmehr gehe es um eine gute Zusammenarbeit der Offenen Jugendarbeit mit der Polizei. “Sonst kommt da keiner mehr dran”, sagt Dietrich. Um Lösungen zu finden, brauche es alle gemeinsam.

Von Ausreißern spricht auch Pircher-Sanou. “Die machen betroffen, weil sie im öffentlichen Raum sind.” Das mache natürlich etwas mit dem subjektiven Sicherheitsgefühl. Es sei aber keine Entwicklung, bei der man beunruhigt sein müsse. “Österreich ist ein kleines Land und ein Ort, an dem man sich sicher fühlen kann.”