Die Vielfalt zeichnet die Menschheit aus

Martin Gruber über “Morbus Hysteria”, seine Inspiration, seine Botschaft und seine Hoffnungen für das Publikum.
Bregenz Frage (VN): Herr Gruber, was hat Sie zu “Morbus Hysteria” inspiriert?
Gruber: Der massive Rückzug in persönliche Komfortzonen und Echokammern, den ich in meiner Umgebung beobachte. Dieses Phänomen manifestiert sich in der Politik sowie in meinem eigenen Umfeld. Das Zusammengehörigkeitsgefühl erodiert, da sich jeder auf seine Ansichten zurückzieht. Anstatt Verständnis und Empathie zu suchen, wird nach Selbstbestätigung gesucht.

VN: Ein Stück über das Rechthaben zu entwickeln, stelle ich mir eher schwierig vor, weil im Ensemble immer alle recht haben wollen?
Gruber: Grundsätzlich haben wir alle eine ähnliche Sicht auf die Dinge, zumal wir uns im Ensemble auch in einer Blase befinden (lacht). Trotz allem finden sich Unterschiede, die wir zuspitzen. Außerdem arbeiten wir mit Humor. Ich liebe das Zersetzende, das Anarchische am Humor. Humor hilft uns, Distanz zu unseren Meinungen und Überzeugungen zu gewinnen und er hilft, uns selbst nicht zu ernst zu nehmen. Das ist besonders wichtig in einer Zeit, in der wir dazu neigen, uns in unserer eigenen Blase zu isolieren und andere Meinungen abzulehnen.

VN: Es gibt viele Interpretationen des Begriffs “Hysterie” – was genau bedeutet er in Bezug auf Ihr Stück?
Gruber: Hysterie ist ein negativ besetzter Begriff, den ich in diesem Zusammenhang nicht ernst meine. Es ist eher das, was ich dem anderen vorwerfe, um eine Abgrenzung zu schaffen. Wenn mir eine Meinung nicht passt, sag ich einfach: Du bist hysterisch. Und schaffe darüber eine Abgrenzung, die sofort eine ernsthafte Diskussion verhindert.
VN: Sie sind dafür bekannt, dass Ihre Stücke oft gesellschaftskritisch sind, welche Themen möchten Sie in Ihrer neuen Arbeit vermitteln?
Gruber: Ich glaube an die Vielfalt, an die Vielschichtigkeit. Jeder Mensch ist anders. Wenn das in der Politik abgebildet würde, könnte eine Heilung in der Gesellschaft stattfinden. Gleichzeitig möchte ich aber auch die Korrektheit um der Korrektheit willen kritisieren. Es wäre schön, wenn das Publikum nach dem Besuch von “Morbus Hysteria” mit Fragen und einem tieferen Verständnis dafür, wie wir als Gesellschaft funktionieren, nach Hause geht. Es geht nicht darum, was richtig oder falsch ist. Es geht darum zu erkennen, dass wir alle verschieden sind und dass diese Unterschiede uns als Menschen ausmachen. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass das Publikum bereit ist, sich einzufühlen und zuzuhören.

VN: Welche Rolle spielt der aktuelle politische und gesellschaftliche Kontext in “Morbus Hysteria”?
Gruber: Wir leben in einer Zeit des Bubble-Denkens, in der die Bedürfnisse aller Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit oft vergessen werden. Das führt zu einer Unfähigkeit zur zwischenmenschlichen Kommunikation. Ein Bundeskanzler proklamiert völlig geschichtsvergessen das Autoland Österreich mit dem Claim „Das Beste aus beiden Welten“ – ich war und bin davon überzeugt, dass es nur eine Welt gibt. Was wir tun, tun wir im besten Fall für alle. Er sagt das ja nur, um eine ganz bestimmte Klientel zu bedienen und darüber wird das große Ganze vergessen. Zum Glück gibt es aber auch die andere Seite, unglaublich engagierte junge Leute, auf die ich meine Hoffnung setze.

VN: Musik spielt in Ihren Produktionen oft eine zentrale Rolle. Wie wird sie in “Morbus Hysteria” eingesetzt und welche Bedeutung kommt ihr zu?
Gruber: In diesem Stück haben Nadine Abado, Andreas Dauböck und Pete Simpson eine Musik entwickelt, die einen massiven Sog ausübt. Sie schafft eine starke Atmosphäre und korreliert mit der Choreografie, die in erster Linie argumentativ ist, die Dinge neu ordnet, neu denkt, neu fühlt. Das ist eigentlich die Aufgabe der Kunst für mich. Es ist ein großer Luxus, dass wir das tun dürfen, dass wir das tun können, dass es ein Beruf ist. Das ist ein Geschenk und das möchte ich natürlich weitergeben.

VN: Würden Sie sagen, dass die aktuelle globale politische und soziale Landschaft Ihre Arbeit und insbesondere “Morbus Hysteria” beeinflusst hat?
Gruber: Wir erleben derzeit eine Verschiebung, eine Polarisierung, eine Rigidität, die mich beunruhigt. Es geht immer weniger um ein Miteinander, um den Austausch von Ideen und Meinungen, sondern immer mehr um das Beharren auf der eigenen Position und die Abwertung des Anderen. Die Menschen ziehen sich immer mehr in ihre eigene Blase zurück und schaffen sich so ein Umfeld, in dem sie sich nur noch mit Gleichgesinnten umgeben.

Morbus Hysteria – Wir haben alle recht UA
Theater Kosmos
PREMIERE: Donnerstag, 15. Juni 2023 | 20 Uhr
weitere Termine: 16. / 17. und 18. Juni | jeweils 20 Uhr
Mit: Michaela Bilgeri, Thomas Kolle, Kirstin Schwab, Tamara Stern, Benjamin Vanyek
Inszenierung Martin Gruber
Text Martin Gruber und Ensemble
Dramaturgie Martin Ojster
Bühne/Kostüme Valerie Lutz
Video Resa Lut
Musik Nadine Abado, Andreas Dauböck, Pete Simpson
Regieassistenz Johny Ritter
Kooperation mit WERK X, Wien. Spieldauer 75 min