Fingerzeig versus Zaunpfahl

Kultur / 22.06.2023 • 14:31 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
Auf dem Weg von Graz nach Wien.
Auf dem Weg von Graz nach Wien.

Reisen als moralische Verfeinerung statt Massentourismus.

Wien Man muss ja nicht gleich die Abschaffung des Tourismus fordern, wie es einst Martin Heidegger nicht ganz ohne Grund, doch mit verkürzter Perspektive tun zu müssen geglaubt hat. Es genügt wahrscheinlich, sein Klimaticket mit Herz und Hirn zu verwenden, die Ziele wohl abzuwägen und abzustimmen, dann können sehr schöne Erfahrungen die Welt und das Empfinden des Reisenden bereichern. Zum Beispiel so:

Wer fährt an einem verregneten Sonntagmittag von Graz nach Wien? Viele, dem Gedränge der auf dem Bahnsteig auf den Eurocity Wartenden nach zu schließen. Wer fährt zur selben Zeit von Mürzzuschlag nach Payerbach? Einer jedenfalls, der jetzt im REX 91 Richtung Wiener Neustadt den Semmering hinauffährt, fast allein in der viel zu modernen Garnitur. Er staunt links und rechts zum Fenster, das sich leider nicht öffnen lässt, hinaus und zählt die Regentropfen an den großen Scheiben.

REX 91 Richtung Wiener Neustadt auf den Semmering.
REX 91 Richtung Wiener Neustadt auf den Semmering.

Weil man sich seine Wahrheiten aber nicht ersitzt, sondern ergeht, wie der altkluge Wanderer Nietzsche orakelt hat, stapft der Reisende nun eine gute Stunde weit vom Bahnhof steil hinauf zum Loos-Haus am Kreuzberg. Vor bald 130 Jahren hat Adolf Loos das Haus für einen Wiener Industriellen und dessen Familie als Landsitz erbaut bzw. geplant. Heute wird es in dritter Generation als „Gasthaus zum Looslassen“ geführt. Und wie!

Das Staunen geht weiter. Auch als der Schreiber frisch geduscht und eingekleidet auf der Terrasse vor einem kleinen Bier und einem Espresso (was sein muss, muss sein) Platz genommen hat: Glas und Tasse werden gleichermaßen von einem auch hierzulande wohlbekannten Mohrenbubenkonterfei geziert! Political correctness ist vielleicht tatsächlich nicht der Weisheit letzter Schrei; oder, um es mit Goethes Mephisto zu sagen: „„Ich bin des trocknen Tones satt /Muss wieder recht den Teufel spielen.“ Wenigstens das Teufelchen: Mohrenmohr und Meinlmohr in stiller Eintracht. Manche glauben immer noch an Zufälle.

Was gelegentlich zu fragen wäre, sagt sich der Klimaticketbesitzer: Wie die k.u.k.-Leute vor über 150 Jahren das mit der Semmeringbahn so toll und nachhaltig hingekriegt haben! Und mehr noch, warum die Heutigen etwa mit der Zweispurigkeit der Arlbergbahn partout nicht weiterkommen (wollen) und kaum mehr als klägliche 50-Jahr-Perspektiven ins Spiel bringen.

Balkon mit Stuhl und Tisch und Ausblick.
Balkon mit Stuhl und Tisch und Ausblick.

Und was zudem gefragt werden könnte, bevor zum Abendessen Kreuzberger Lammleber und gerollte Mohnpalatschinken zum Zug kommen, und womit wir im Philosophischen angelangt sind, ist, was es eigentlich mit dem Reden auf sich hat, mit diesem endlosen Gerede, das um den Schweigsamen herum wogt wie der endlose Ozean um Moby Dick, den weißen Wal. Muss das alles gesagt werden, was in die iPhones hineingenuschelt und hineinpalavert wird? Wo doch das Reden meist nur noch ein unbeholfener Kommentar ist zu dem, was auf den Handybildschirmen in ununterbrochener Folge herbei- und weggewischt wird.

Reisebericht von Peter Natter.
Reisebericht von Peter Natter.

Morgen fahre ich dann zu den Statuen im Park des Wiener Belvedere. Die sind die Diskretion in Person, wenn auch freizügig. In Geduld und Demut verweisen sie auf Bleibendes, und sie halten die Klappe.

Peter Natter