Wie es war, von der Wehrmacht zu fliehen

Kultur / 20.09.2023 • 18:40 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Rudolf Bilgeri: „Bei den Partisanen in Athen – Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht“.  <span class="copyright">Universitätsverlag Wagner</span>
Rudolf Bilgeri: „Bei den Partisanen in Athen – Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht“. Universitätsverlag Wagner

Rudolf Bilgeris Tagebuchblätter von seiner Flucht zu den Partisanen wurden veröffentlicht.

Hohenems/Wien Rudolf Bilgeris Sohn Richard hatte in den VN gelesen, dass an der Universität Innsbruck ein Forschungsprojekt zu Wehrmachtsdeserteuren in Tirol und Vorarlberg gestartet wurde und kontaktierte daraufhin den Historiker Peter Pirker. Dieser war von den Aufzeichnungen dermaßen begeistert, dass er eigens nach Hohenems fuhr, wo Richard Bilgeri wohnt. Dem Forschungsleiter und späteren Mitherausgeber war bewusst, dass die Tagebuchblätter eine unglaublich wertvolle und außergewöhnliche Quelle sind. „Das ist mir schon beim ersten Durchlesen dieser Handschrift klar geworden.“ Und Richard Bilgeri ergänzt: „Mein Vater hat seine Flucht und die Zeit bis zur Rückkehr nach Österreich 1947 während seiner Gefangenschaft in Ägypten auf Tagebuchblättern festgehalten.“

Rudolf Bilgeri, der Vater von Reinhold Bilgeri.   <span class="copyright">Privatarchiv Bilgeri</span>
Rudolf Bilgeri, der Vater von Reinhold Bilgeri. Privatarchiv Bilgeri

Spannend geschrieben

Schon auf den ersten Blick stachen die kalligrafisch verzierten Anfangsbuchstaben, die gestochene und akribische Handschrift und die kunstvollen Illustrationen ins Auge. Daneben lag noch ein Poesiealbum und ein Fotoalbum, das die ganze Biografie bis in die 50er-Jahre erfasste. Inklusive der Bilder aus Wehrmachtszeiten. „Dieser Nachlass eröffnete die Möglichkeit, eine breite Leserschaft anzusprechen“, sagt der 53-Jährige, „zumal die Tagebuchblätter flüssig und spannend geschrieben waren.“
Mit dem Einverständnis der Familie nahm Pirker den Nachlass mit
in seine Lehrveranstaltung und analysierte mit Studierenden der Zeitgeschichte die Dokumente.

Peter Pirker ist gemeinsam mit Ingrid Böhler der Herausgeber des Buchs.   <span class="copyright">privat</span>
Peter Pirker ist gemeinsam mit Ingrid Böhler der Herausgeber des Buchs. privat

„Wir haben als Historiker die Aufgabe, das in einem wissenschaftlichen Kontext zu tun“, warf er ein und erklärte: „Gemeinsam haben wir eine Quellenkritik durchgeführt, die Authentizität, die innere Stimmigkeit sowie Orts- und Zeitangaben überprüft und wussten, dass es sich um sehr genau geführte Tagebuchaufzeichnungen handelt.“ Die Entscheidung, daraus ein Buch zu machen, war damit gefallen. Es erzählt wie der 37-Jährige mit Hilfe der Dolmetscherin Dina flüchtet und sich der griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS anschließt. In Ägypten begann er, seine Flucht aus der Wehrmacht niederzuschreiben. Er schuf eine außergewöhnliche Quelle über die Schlussphase der deutschen Herrschaft in Griechenland, die Tragik des Partisanenkampfes, über Kriegsgefangenschaft und Heimkehr. Im Nachwort teilt Reinhold Bilgeri Erinnerungen an seinen Vater Rudolf.

Lesung in Bregenz

Eine Gruppe von Kriegsgefangenen.   <span class="copyright">Privatarchiv Bilgeri</span>
Eine Gruppe von Kriegsgefangenen. Privatarchiv Bilgeri

Im Vorarlberg Museum stellten die Herausgebenden Peter Pirker und Ingrid Böhler das Buch „Bei den Partisanen in Athen – Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht“ vor. Es bietet einen unverstellten Blick auf Besatzung und Partisanenkampf, Menschenhatz und Desertion, Kadavergehorsam und Tapferkeit unter Todesgefahr. Und es füllt eine zeitgeschichtliche Lücke in der Erinnerungskultur, denn es gibt keine andere bekannte Quelle aus Griechenland. „Österreichische Soldaten und Polizisten waren mitverantwortlich dafür, dass insgesamt 50.000 Geiseln und Zivilisten bei der Partisanenbekämpfung getötet wurden“, berichtet der Historiker.

Rudolf Bilgeri widmete das Buch seiner Frau und seinen Kindern.  <span class="copyright">Privatarchiv Bilgeri</span>
Rudolf Bilgeri widmete das Buch seiner Frau und seinen Kindern. Privatarchiv Bilgeri

„Die Entscheidung zu desertieren war eine Entscheidung für das Leben und gegen den Tod.“ Wie viele Überlegungen und Planungen dahinter stecken, wie viel Mut es brauchte und vor welchen Schwierigkeiten Deserteure standen, erzählen die Aufzeichnungen Bilgeris. Welche Handlungsmöglichkeiten die Menschen hatten, wie sie die Handlung begründeten und welche Entscheidung sie gefällt haben. Er macht durch seine Berichte seine Handlung nachvollziehbar.

Auszug aus dem Buch „Bei den Partisanen in Athen“.  <span class="copyright">Privatarchiv Bilgeri</span>
Auszug aus dem Buch „Bei den Partisanen in Athen“. Privatarchiv Bilgeri

Rationale Entscheidung

Die allermeisten der rund 800 Fahnenflüchtigen aus Tirol und Vorarlberg überlebten. Auch Rudolf Bilgeri, der nach seiner Heimkehr wieder als Lehrer arbeitete. Er verstarb 1992. Rockprofessor und Regisseur Reinhold Bilgeri, einer seiner Söhne ist überzeugt, dass ihn das Buch gefreut hätte.
CR

Peter Pirker und Ingrid Böhler (Hrsg.), Autor: Rudolf Bilgeri, „Bei den Partisanen in Athen – Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht“, Universitätsverlag Wagner, 176 Seiten, Original-Fotos und -Illustrationen;

 

Fact-Box:

Lesung aus Rudolf Bilgeri: „Bei den Partisanen in Athen – Tagebuch eines Deserteurs der Wehrmacht“

Wann: Dienstag, 17. Oktober, 19.30 bis 21 Uhr

Wo: Jüdisches Museum Hohenems

Es kommen Reinhold Bilgeri (Lochau), Ingrid Böhler (Innsbruck) und Peter Pirker (Innsbruck). Moderation: Johannes Spies (Dornbirn)

Buchbeschreibung:

Der Wehrmachtssoldat Rudolf Bilgeri will vor allem eines – den Krieg überleben und seine Familie wiedersehen. Mit Hilfe der Dolmetscherin Dina flüchtet der 37-Jährige und schließt sich der griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS an. In Ägypten begann er, seine Flucht aus der Wehrmacht niederzuschreiben. Er schuf eine außergewöhnliche Quelle über die Schlussphase der deutschen Herrschaft in Griechenland, die Tragik des Partisanenkampfes, über Kriegsgefangenschaft und Heimkehr. Im Nachwort teilt Reinhold Bilgeri Erinnerungen an seinen Vater Rudolf.

 

„Da, das Blut will mir in den Adern erstarren, steuert eben der Chef des Stabes, Oberleutnant Schulze, aus der besagten Straße kommend, auf das Dienstgebäude zu. Nur wenige Meter von mir entfernt, defiliere ich keck und schneidig salutierend an ihm vorbei, als ob ich im Begriff stünde, einen Dienstweg anzutreten. Mein sicheres Auftreten, das weder Furcht noch Bangigkeit verrät, muss ihn wohl zu dieser Auffassung veranlassen. Er erwidert den Gruß und setzt seinen Weg fort. Ich atme auf. Der Puls fliegt. Noch steckt der Schreck mir in den Gliedern. Wie leicht hätte er mich nach meinem Vorhaben befragen können.“

Rudolf Bilgeri, Auszug aus den Tagebuchblättern