Die aufregende Reise zu Japans Stunde Null

VN-Interview: Hans Platzgumer (54), Autor und Komponist
Lochau Am 1. September 1923 standen in Tokio die Uhren still. Ein unsagbares Erdbeben suchte das Land heim und machte es dem Erdboden gleich. Der in Lochau beheimatete Autor Hans Platzgumer legt genau 100 Jahre danach mit “Großes Spiel” einen Roman vor, der in dieser Zeit handelt und auf diese Katastrophe hinsteuert.
Wie kommt es dazu, sich so intensiv einer ganz anderen Lebenswelt zu widmen?
Beim Schreiben eines Romans lässt sich ein Autor grundsätzlich in andere Leben fallen, auch wenn ein gewisser autobiografischer Anteil stets einfließt. Ich denke mich in die Figuren und Situationen hinein, fange an, in ihnen zu leben. Nur so beginnt der Text zu leben. Das gilt auch für historisch fundierte Geschichten. Das ist Fiktion innerhalb eines Gerüsts aus Fakten.
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Warum waren so viele Konzepte (und Manuskripte) notwendig, bis „alles“ gepasst hat und großes Spiel entstehen durfte.
Der Stoff ist sehr komplex, ein wahrhaft großes Spiel, es dauerte, bis die optimale Auswahl, Erzählweise, Sprache, Perspektive, Dramaturgie gefunden war.
Worin lag für Sie als Autor die große Herausforderung?
Jeder Roman ist eine neue Herausforderung, ein weißes Blatt, das beschrieben werden will. In diesem Fall gab die Historie die Geschichte vor, das war teils Segen, teils Fluch, teils Stütze, teils Einschränkung.

Die Menschen in diesem Buch sind sehr verschieden angelegt. Welcher Charakter ist Ihnen am nächsten?
Ich finde Parallelen zum aufmüpfigen Rebellen Osugi in mir. Er ist ein Skeptiker, er will nicht blind gehorchen und zugleich nicht befehlen, er lehnt Hierarchien ab und erlaubt sich, alles, auch sich selbst, immer wieder zu hinterfragen.
War es für Sie ein Ansinnen ein äußerst humanistisches Buch zu schreiben oder ist das einfach passiert?
Wahrscheinlich hat mich der Stoff wegen dieser Grundthematik so in seinen Bann gezogen. Doch derlei geschieht eher unbewusst. Wenn man sich von vornherein als Ziel setzt, ein moralisches Buch zu schreiben, kann man nur scheitern. Ich will als Autor davon überrascht werden, wie sich die Geschichte entrollt, welche Wendungen sie nimmt, nur dann kann auch die Leserin in sie verwickelt werden.

Wie war es, sich literarisch – als Ich-Erzähler, Hauptmann Amakasu – nochmals indirekt mit seinem eigenen Vater auseinanderzusetzen?
Intensiv und bereichernd. Ein Verlassen meiner Komfortzone, eine Schulung der Empathie. Wir sollten uns viel öfter mit dem konfrontieren, das uns nicht auf den ersten Blick am nächsten liegt.
Christian Kracht hat „die Toten“ ebenfalls mit Hauptmann Amakasu auseinandergesetzt. Haben Sie das Buch gelesen?
Ich las sofort rein und stellte erleichtert fest, dass er die Figur des Amakasu nur grob als Anker, oberflächlich und selektiv faktisch benutzte und sogleich in die Krachtsche Fiktion überführte. Das kam meinem literarischen Anliegen nicht in die Quere, sondern ergänzte sich vielmehr.
Wie wird die Zeit um 1923, das Jahr des Erdbebens und der politischen Aufruhr heute in Japan wahrgenommen?
Die Taisho-Epoche wird tabuisiert, sie steht für Chaos, Unordnung, Schwäche. Dafür ist kaum Platz im japanischen Selbstverständnis. Auch heute noch ist es unvorstellbar, den Kaiser öffentlich zu kritisieren.

Was macht für Sie die Magie in dem Roman aus?
Dieses Arsenal aus eigenartigen, eindrücklichen, charismatischen Figuren, die volles Risiko gehen in einer Welt, in der plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.
Erscheint „Großes Spiel“ auch in Japan?
Ich hoffe sehr. Auch wenn dies gewisse Gefahren in sich birgt, denn radikale Nationalisten, Monarchisten, Traditionalisten könnten sich vor den Kopf gestoßen fühlen.
Was sind ihre nächsten Vorhaben?
Ich habe zwei neue Romanprojekte in Arbeit, jeweils Stoff, der wieder hierzulande und in der Gegenwart spielt.

Tipp: Das Franz-Michael-Felder-Archiv lädt am 05. Oktober um 19.30 Uhr Hans Platzgumer und Carl Tokujiro Mirwald zum Gespräch und zur Lesung aus dem Roman „Großes Spiel“ ins Vorarlberger Landestheater. Der Eintritt ist frei!
Martin G. Wanko