Aus einem Leben
Ihr Ich war unsichtbar, ein Leben lang. So wollte sie es. Nicht auffallen. Alles richtig machen. Sie gehörte einer Generation an, die vergangen war. Als sie starb und Verwandte ihre Wohnung ausräumten, um alles neu zu machen, wunderten sie sich. Die Tassen im Schrank waren nicht sauber, Staub lag unter den Möbeln. Dabei war sie immer so genau gewesen. Das musste an ihren Augen liegen. Sie hatte den Schmutz nicht mehr gesehen.
So war sie alt geworden, die brave Frau, und war allein in ihrem Doppelbett gestorben. Ihr Mann hatte sie schon Jahre zuvor verlassen.
Sie lebte die Tage, wie sie die meisten Tage gelebt hatte, stand früh auf, wusch sich unter den Achseln und zog sich ihr Hauskleid an. Ihr Sohn war mit einer Frau liiert, die seine Mutter hätte sein können. Das lag wohl daran, dass ihn seine leibliche Mutter so sehr an sich gebunden hatte, umso mehr, als ihr Mann zu einer anderen Frau gegangen war. Ihr Sohn hatte versagt, war missraten, hatte alles begonnen und nichts fertiggebracht. Sie liebte ihn trotz allem und gab ihm alles, was sie hatte. Selber brauchte sie immer weniger. Das Brot, das sie am Montag kaufte, reichte bis Sonntagabend, dann wurde ein neues besorgt. Sie hatte sich nie etwas gegönnt.
„Gönn dir doch einmal etwas!“, sagten ihre Schwestern zu ihr. „Mach eine Reise, heb Geld von seinem Konto ab und räche dich auf diese Weise für seine Untreue!“ Nichts dergleichen. Die Frau lebte dem Schicksal gemäß. Das war festgeschrieben wie ein Bibelspruch. Sie dachte, würde sie sterben und vor ihren Schöpfer treten, wäre der mit ihr zufrieden. Aber was wusste sie schon von ihm. Er dagegen wusste alles über sie. Er kannte ihre Sehnsüchte, ihre Träume, ihre Rachegedanken. Sie träumte, der Mann ihrer Schwester würde sie bevorzugen und seine Frau verstoßen, weil sie vergnügungssüchtig war. Sie träumte, er wäre mit ihrer Bescheidenheit glücklich. Sie träumte davon, Rache zu üben, sah sich mit einem Messer in die Brust der neuen Frau ihres Mannes einstoßen und darin umrühren. Umrühren, wie grausam, aber was kann man für seine Träume. Ihre Augen wurden schlechter, und sie putzte nach Gewohnheit, aber nicht nach Maß. Lief die Milch über, wischte sie den Herd und vergaß den Milchtopf zu säubern. Als einmal ihr Sohn kam, um sein Geld abzuholen, wie eine private Mafia, musste er sich die Nase zuhalten. Er sagte zu ihr, sie werde einsam sterben, weil sie so ekelhaft sei. Ist das Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit gibt es nicht, sagte die Frau zu sich, als sie halbtot in ihrem Ehebett lag. Darum kann ich nur auf Gnade hoffen.
Als sie starb und Verwandte ihre Wohnung ausräumten, um alles neu zu machen, wunderten sie sich.
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Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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