Talisman
Träumerische Menschen besitzen einen Talisman. Er soll sie vor Bösem bewahren und Glück bringen.
Ein alter Mann erzählte mir, sein Talisman sei ein kaputter Rosenkranz gewesen. Als er ihn von seiner Mutter geschenkt bekam, nahm er ihn mit auf seine Reise. Er war noch wie neu, eine Bernsteinperle an der anderen, glänzend und warm in der Handmulde. Er wollte ihn zuunterst in seinen Rucksack stecken, aber er vergaß es. Auf einem seiner Abenteuer dachte er erst wieder daran, als er im Krankenhaus lag. Er war von einem Hund gebissen und dabei schwer verletzt worden. Hätte ich den Talisman bei mir gehabt, wäre mir das nicht passiert.
Was könnte das heißen? Wäre dann der Hund zahm gewesen wie ein Reh? Jedenfalls suchte er, sobald er wieder zu Hause war, seinen Talisman und steckte ihn tief in seinen Rucksack. Und nahm ihn überallhin mit. Die Perlen wurden matt.
Viele Jahre später lieh sein Enkel den Rucksack bei ihm aus. Er stellte ihn auf den Kopf und die Rosenkranzperlen fielen auf den Boden. Er bückte sich und hob sie auf. Er nahm ein Taschentuch aus Stoff, wickelte die Perlen ein und verstaute sie unter seinem Kopfkissen, denn er dachte, Glück brauche ich in der Nacht, wenn meine Liebste neben mir liegt. Wenn wir zum Beispiel am Tag wegen Geld gestritten haben und uns versöhnen sollten. Er glaubte an die Zauberkraft der Perlen.
Einmal ging der Enkel, da war er schon ein richtiger Mann und ein Vater, mit seiner Tochter spazieren. Sie redete wie ein Buch, so sagt man doch, dabei hatte sie eine Rotznase. Er zog sein Taschentuch aus seinem Hosensack, dabei fielen die Perlen vom Talisman in die Wiese. Das Mädchen sammelte sie auf.
„Schenkst du sie mir, weil ich sie gerettet habe?“
Er erzählte ihr die Geschichte vom Talisman, übertrieb, machte aus dem Hund einen Löwen, aus der Krankheit eine Katastrophe, die zum Tode führte.
„Und wie ist der Talisman zu dir gekommen?“, fragte die Tochter.
„Er hat mich gefunden“, sagte der Mann. „Er lag unter meinem Kopfkissen, als wir frisch verheiratet waren, deine Mama und ich, und als wir uns ein Mädchen wünschten, funktionierte das gleich.“
„Du meinst wegen dem Talisman?“, fragte das Mädchen.
Sie wollte die Perlen, und sich daraus ein Armband basteln, dann hätte sie es immer bei sich und würde sich wünschen, dass sie einmal eine berühmte Schauspielerin wird, weltberühmt, und dass sie dann die Eltern zur Oscar-Verleihung einladen würde, und dass sie dann in der Rede die Geschichte vom Talisman erzählen würde …
„Die wäre zu lang“, sagte der Vater, „die müsstest du ordentlich kürzen. Mehr als drei Minuten ist in Hollywood nicht erlaubt.“
„So wenig?“
„Das Leben ist keine Dankesrede“, sagte der Vater und blinzelte.
Er war von einem Hund gebissen und dabei schwer verletzt worden. Hätte ich den Talisman bei mir gehabt, wäre mir das nicht passiert.
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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