Entsolidarisierung?
In Italien haben in den beiden nördlichen Regionen Lombardei und Venetien, deren Wohlstand durchaus mit den wirtschaftlich stärksten Ländern Deutschlands und Österreichs mithalten kann, Volksbefragungen stattgefunden. Dem Wunsch nach mehr Autonomie stimmte die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer zu. Die Beteiligung war mit knapp 40 Prozent in der Lombardei und fast 60 Prozent im Veneto zwar nicht sehr hoch, aber da es sich um rechtlich unverbindliche Befragungen handelte, doch beachtlich.
Manchmal wird die Abstimmung in Norditalien mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens verglichen und Entsolidarisierung beklagt. Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um reiche Regionen, die mit ihren Steuereinnahmen den Gesamtstaat alimentieren.
Vor allem in Norditalien spielt das Empfinden, vom Süden ausgenutzt zu werden, eine große Rolle. Das Gefühl ist auch nicht unbegründet. Trotz jahrzehntelanger massiver Geldflüsse vom Norden in den Süden Italiens sind dort die öffentlichen Infrastrukturen in einem katastrophalen Zustand. Abwanderung der gut ausgebildeten Jungen kennzeichnet die demografische Entwicklung. Einem bösen Spruch zufolge ist sogar die Mafia geflüchtet, weil es nichts mehr zu holen gibt. Bitter sind nicht nur die Wohlstandsunterschiede zwischen Nord- und Süditalien an sich, sondern auch, dass die Kluft in den vergangenen Jahren trotz des Geldes aus dem Norden immer größer geworden ist.
Es kann also nicht überraschen, dass die Solidarität Norditaliens mit dem Süden abnimmt. Die Entwicklung sollte all jenen zu denken geben, die glauben, man könne erzwingen, dass reichere Gegenden ärmere bis in alle Ewigkeit unterstützen. Schwache wirtschaftliche Entwicklung ist nämlich kein Schicksal, sondern kann überwunden werden, wenn Unterstützung mit Anstrengung verbunden wird. Da der Wohlstand eines Landes nicht mehr von Bodenschätzen bestimmt wird, ist dies heute sogar leichter als früher.
Auch in Österreich glauben manche, Solidarität habe nur in eine Richtung zu verlaufen und beruhe nicht auch auf Gegenseitigkeit. Dies gilt besonders für jene Regionen im Südosten und Osten Österreichs, die mehr aus dem Finanzausgleich beziehen als sie einzahlen. Unterstützung zur Überwindung von Strukturschwächen gehört zum Bundesstaat. Nicht selbstverständlich ist hingegen, dass dies über Jahrzehnte so praktiziert werden muss. Ein Instrument zur Abhilfe könnte eine maßvolle Steuerautonomie sein, die die Verantwortung der jeweiligen Länder für ihre Einnahmen und Ausgaben stärkt und die von der neuen Bundesregierung endlich in Angriff genommen werden sollte. Mit Entsolidarisierung hat das gar nichts zu tun.
„Auch in Österreich glauben manche, Solidarität habe nur in eine Richtung zu verlaufen und beruhe nicht auch auf Gegenseitigkeit.“
Peter Bussjäger
peter.bussjaeger@vn.at
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus und Universitätsprofessor in Innsbruck.
Kommentar