„Die Wurst hab‘ ich nicht, die hat jeder selber“

Ökumenische Gespräche Bregenz: Armin Thurnher über die Vielzahl an Krisen dieser Tage.
Bregenz Das ist ein wahrer Sturzregen an Unannehmlichkeiten, die Armin Thurnher auf sein Publikum niederprasseln lässt. Aber der Chefredakteur der Wiener Stadtzeitung „Falter“ mit Bregenzer Wurzeln ist auch nicht zu den Ökumenischen Gesprächen in Bregenz angereist, um die Welt schönzureden. „Biedermann und die Brandstifter“ heißt dieser Abend. Das Stück, das Max Frisch 1949 schrieb, trifft auch heute ins Schwarze. Biedermann, das sind wir. Und die Brandstifter? Der Neoliberalismus, das neue Goldene Kalb, das ausgerechnet jene umtanzen, deren Rechte bald schon Makulatur sein könnten. Aber der Reihe nach.
Aus der Balance
Sechs krisenhafte Entwicklungen zählt Thurnher auf. Die zerfallende Balance der Welt ist die erste. „Noch immer sind die USA der Hegemon der Welt. Aber das Gleichgewicht des Schreckens war einmal. Mit Russland und China erstarken Regime, in denen demokratische Prinzipen nichts gelten. „In den USA gibt es wenigstens noch eine Opposition.“
China und Russland finden auch hierzulande Anhänger. Dort geht halt viel. Demokratische Strukturen, Gewerkschaften, Arbeitsrechte – nichts davon stört. Dass die FPÖ sich zu Russland und Teile der ÖVP sich zu Viktor Orbáns Ungarn hingezogen fühlen, ist in Thurnhers Augen kein Zufall.
Zweite Krise: Globalisierung und Migration. Wir reden über Terrorismus und Flüchtlingskrise. „Beim Terrorismus übersehen wir den Elefanten im Raum“, warnt Thurnher. „Was haben die USA im Irak angerichtet? Sie haben ideale Bedingungen für den IS geschaffen.“ Die Folgen: Bomben, Tote, Ängste. Heute stehen in Österreich jene, die Menschenrechte predigen, den anderen gegenüber, die das eigene Recht über alles stellen. Und die Politiker? „Sind unsere hiesigen Brandstifter“, diagnostiziert Armin Thurnher.
Dritte Krise: Ende des Versprechens ausgleichender Gerechtigkeit. „Das Ende der Sozialpartnerschaft.“ Thurnher bezeichnet den Neoliberalismus als „das erfolgreichste Gehirnwäscheprogramm, das der Westen seit 1945 erlebt hat“. Das Ziel ist „die Demontage des Sozialstaats“.
Vierte Krise: Angst vor sich auflösenden Gesellschaftsstrukturen, die Angst vor der Abstiegsgesellschaft. „Einerseits fürchten Leute um den Sozialstaat, andererseits wählen sie jene, die den Sozialstaat kleiner machen werden“, so Thurnher. Das verstehe, wer will.
Fünfte Krise: Angst vor steigender Gewalt, vor dem Ende des Rechtsstaats. Das Spektrum reicht von den Privatarmeen, wie sie etwa im Irak ungehindert agieren, bis zur Forderung nach einem starken Mann, wie sie in Österreich wieder laut wird.
Sechste Krise: Misstrauen in das Funktionieren gesellschaftlicher Kommunikation („Fake News“). Thurnher bezeichnet Social Media als „die technische Seite des Neoliberalismus“. Digitale Medien könnten eine Demokratie befeuern, aber sie tun es nicht. Die Charakterzüge eines guten Journalismus – Überprüfung von Fakten, Vier-Augen-Prinzip – verlieren in der Welt von Social Media ihre Gültigkeit. Stattdessen wird gelogen und betrogen, „bis man nicht mehr weiß, was man wem glauben soll“.
Eigenverantwortung
Das alles wiegt so schwer, dass eine Zuhörerin fast flehentlich bittet: „Ich dachte, Sie bringen uns etwas Hoffnung mit, wie eine Wurst, nach der man greifen kann.“ Aber da pariert Thurnher: „Die Wurst hab ich nicht. Die hat jeder selber.“ Will heißen: Für die Zukunft unserer Gesellschaft gibt es kein Amt, das zuständig wäre. Das sind wir schon selber. TM
Nächster Termin: Ökumenische Gespräche, Bregenz, ev. Kreuzkirche/Ölrain, 21. November, 19.30 Uhr, Vortrag: Dr. Hannelore Reiner OKR i. R. „Was mich nicht verzweifeln lässt – Strategien gegen die Angst“.