Vorarlberg ist ein Zuwanderungsland

Seit 1961 sind fast 40.000 Menschen mehr gekommen als gegangen.
SCHWARZACH „Die Migrationsgeschichte Österreichs ist öffentlich viel zu wenig präsent und sichtbar“, kritisiert Dirk Rupnow (45) von der Universität Innsbruck, um sogleich zu differenzieren: „Vorarlberg scheint mir dabei vom Mainstream etwas abzuweichen. Zuwanderung wird dort gelegentlich viel selbstverständlicher thematisiert als in anderen Teilen der Republik.“
Was sehr wahrscheinlich damit zu tun hat, dass man mehr Erfahrung damit hat; und zwar in jeder Hinsicht: Die Migrationsdaten, die die Statistik Austria führt, reichen zurück bis ins Jahr 1961. Demnach sind seither bis einschließlich 2016 um genau 39.068 Menschen mehr nach Vorarlberg zugewandert als das Land verlassen haben. Wobei es drei Spitzen gab, die durch Phasen unterbrochen wurden, in denen die Abwanderung zum Teil sogar deutlich überwog (siehe Grafik).
Der Historiker Elmar Hasovic (38), der demnächst auch ein Buch zu dieser Geschichte schreiben wird, hat sich im Auftrag des Landesmuseums näher damit auseinandergesetzt: Die erste Zuwanderungsspitze gab es Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre. Dahinter standen laut Hasovic vor allem Menschen aus der Türkei und dem damaligen Jugoslawien. Sie wurden als „Gastarbeiter“ wahrgenommen und auch so behandelt: Integration fand kaum statt.
Mit der Ölkrise, die auch der Wirtschaft zu schaffen machte, verloren viele die Arbeitsbewilligung und kehrten in ihre Herkunftsländer zurück. 1975 war die Wanderungsbilanz tiefrot im Sinne von negativ; allein in diesem Jahr verließen um 2224 Personen mehr Vorarlberg als daherkamen.
Die zweite Zuwanderungsspitze folgte Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Sie war laut Hasovic vor allem mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens verbunden: „Viele Leute machten sich damals schon frühzeitig auf den Weg nach Deutschland, die Schweiz und eben Österreich.“ Beziehungsweise Vorarlberg. Nach Ausbruch der ersten Kriegshandlungen folgten weitere. 1992 auch Elmar Hasovic.
Flüchtlinge waren auch ausschlaggebend für die dritte und jüngste Zuwanderungsspitze 2015. Sie, vor allem Syrer und Afghanen, wurden aber anders gesehen als etwa die Bosniaken 25 Jahren davor, wie Hasovic feststellt: Mehr als Muslime, weniger als „Nachbarn in Not“. Die Migration hat nach all den Jahrzehnten Spuren hinterlassen. „An jeder Ecke“, erinnert Hasovic allein schon ans Straßenbild: Pizzerien und Kebabstände zeugten davon. An den Schulen wurde muttersprachlicher Unterricht eingeführt, darüber hinaus bildeten sich Initiativen wie „okay.zusammen leben“. Es ist viel passiert.
In Österreich insgesamt bleibt aber noch sehr viel zu tun, wie Rupnow betont, der als Zeitgeschichtler an der Uni Innsbruck das Institut für Migration und Globalisierung leitet: Seit mehr als 50 Jahren sei man ein Einwanderungsland, so der Professor: „Doch die Politik will das nicht zur Kenntnis nehmen, sie betreibt Realitätsverweigerung. Das ist nicht gut für unsere Gesellschaft: Staaten, die dazu stehen, ein Einwanderungsland zu sein, reden nicht ständig von Leitkulturen, sondern bemühen sich viel stärker um ein gutes Zusammenleben in der Vielfalt.“ joh
„Die Politik will das nicht zur Kenntnis nehmen. Sie betreibt Realitätsverweigerung.“