Von sterbenden Kreaturen
„Wenn du mich fragst“, sagte der Mann, der ein Alkoholiker war. „Also wenn du mich fragst …“
Ich hatte ihn aber gar nicht gefragt.
„Also wenn du mich fragst, ich war im Krankenhaus und dachte, jetzt kommt es, jetzt kommt der Tod, also, wenn du mich fragst, zum Sterben war ich nicht aufgelegt. Der Tod kam näher und ich wusste, bald würde der letzte Buchstabe ein „t“ sein, also tot.“
„Erzähl einfach weiter, tu so, als ob ich dich gefragt hätte“, sagte ich. „Wenn du großzügig sein willst, schenk mir deine Geschichte, damit ich sie aufschreiben kann.“
„Kann nicht sein“, sagte der Mann, der ein Alkoholiker war, „denn dann werde ich bereits tot sein.“
Er stand im Krankenhauslift vor der Intensivstation im vierten Stock und drückte den Knopf, er wollte nach unten, in die Trafik, dort ein paar Underbergs kaufen.
„Tu das nicht!“, sagte ich zu ihm. „Bleib hier oben! Ich hole dir einen Saft. Was für einen magst du?“
„Einen Underbergsaft“, sagte der Mann, kaum konnte er stehen, so wenig Leben war noch in ihm. Ich sah ihn zurück in sein Zimmer wanken.
Ich kam mir so dumm vor mit dem Vitaminsaft in der Hand, ich wollte den Mann nicht beschämen und ihm sagen, was für ihn gut wäre, jetzt wo er dem Tod so nah war. Ich legte mich in mein Spitalsbett, und doch ließ es mir keine Ruhe. Leise bewegte ich mich aus dem Zimmer, schlich zur Intensivstation und öffnete die Tür einen Spalt. Gleich wurde ich vertrieben. Ich hatte eine Bahre gesehen, ein geöffnetes Fenster und das leere Bett des Mannes.
Ich erinnerte mich, als ich ihn noch lebend an unserem Haus vorbeitappen sah, schwarz gekleidet, er hatte sich auf seine Gehhilfe gestützt, machte einen Schritt, blieb stehen und machte wieder einen Schritt. Wie hatte er es nur in den Krankenhauslift geschafft?
Er war tot, und das war es ja auch, was er sich gewünscht hatte, tot zu sein und das Leben nicht mehr aushalten zu müssen.
Hatte er es denn nie schön gehabt?
Draußen vor meinem Zimmer lärmte es, und ich hörte, wie eine Frau hysterisch nach dem Stationsarzt verlangte. Ihr Hund sei totgefahren worden, und sie habe herausgefunden, dass dieser Arzt, ja, dieser Schuld hatte. „Mein Liebling“, jammerte sie, „dein Mörder wird nicht heil davonkommen!“
Der tote Mann war in der Kapelle aufgebahrt, ich besuchte ihn dort. Er lag ganz friedlich, und wie mir schien, hatte er ein wenig Spott um den Mund, so als wollte er sagen, ich bin der, der es besser haben wird als ihr, denn ihr habt es schon auf Erden gut gehabt. Vor dem Eingang standen entsorgte Grünlilien, tot, und ich dachte: Menschen, Tiere, Pflanzen – hört denn das Sterben nie auf!
„Wie hatte er es nur in den Krankenhauslift geschafft?“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
Kommentar