„Die Politik verschläft“

Warnung vor Radikalisierung in den Gefängnissen.
Feldkirch Ramazan Demir ist seit sieben Jahren als ehrenamtlicher islamischer Seelsorger in Österreichs Gefängnissen unterwegs. Er hat seine Erfahrungen nun aufgeschrieben und warnt: Das Problem werde nicht kleiner.
Was möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Demir Ich möchte den Unterschied zwischen Islam und Islamismus aufzeigen. Die Gesellschaft soll die Welt der Extremisten kennenlernen. Außerdem soll die österreichische Community verstehen, wie Extremisten ticken, damit Irrtümer analysiert werden können.
Welche Irrtümer meinen Sie?
Demir Zum Beispiel den Missbrauch der Terminologie. Scharia sei eine Herrschaftsform, der Dschihad sei der heilige Krieg, alle anderen seien ungläubig. Das ist alles Quatsch. Diese falsche Sichtweise ist Teil der Radikalisierung. Daneben spielen Perspektivlosigkeit, Identitätsprobleme und die Suche nach Anerkennung eine Rolle, zum Beispiel die eines Vaters. Ich habe Jugendliche betreut, die Probleme mit dem Vater hatten. Den Ersatz haben sie bei einem Hassprediger in einer versteckten und radikalen Hinterhofmoschee oder auf Social Media gefunden.
Welche Typen von Extremisten haben Sie kennengelernt?
Demir Zum einen die Mitläufer, das ist die absolute Mehrheit. Aber es gibt auch die fünf bis zehn Prozent, die ich als Leader bezeichne. Die Mehrheit der Mitläufer können wir recht schnell deradikalisieren. Bei den Leadern ist es schwieriger, trotzdem müssen wir es versuchen.
Wie funktioniert Radikalisierung in Gefängnissen?
Demir Ein Beispiel: Ein Insasse muss wegen Diebstahls ins Gefängnis. Er sucht nach Halt und nach Kraft. Die Religion kann ihm diese Kraft geben, aber wenn der Seelsorger nicht vor Ort ist, gerät er an einen radikalisierten Mitinsassen. Dieser gibt sich als Supermoslem und radikalisiert ihn. Zwei Wochen später kommt der Dieb wieder raus.
Wie geht es den Rückkehrern?
Demir Es gibt Rückkehrer, die mit der Einsicht kommen: Nie wieder, ich wurde in die Irre geführt. Die hassen ihre Verführer. Aber dann gibt es die, die immer noch denken, sie hätten richtig gehandelt. Die meisten Rückkehrer haben es eingesehen und Reue gezeugt. Manche sind seelisch am Ende, das geht bis zu Suizidversuchen.
Gibt es auch hoffnungslose Fälle?
Demir Im Kapitel über die Unverbesserlichen schildere ich so einen Fall. Er hat meinen Gefängnisausweis gesehen und wollte darauf nicht mit mir sprechen, weil ich mit dem Staat zusammenarbeite. Auch, als ich ihm erklärte, dass ich ohne Ausweis nicht ins Gefängnis darf, blieb er dabei. Ich sei ungläubig. Darauf fragte ich ihn, was mit den 570 staatlich finanzierten Religionslehrern sei. Auch die seien Ungläubige. Und ich würde ja wissen, was man mit Ungläubigen mache.
Sie beschreiben auch in Ihrem Buch einige Drohungen.
Demir Der letzte Kick für mich war ein Seelsorger, der mich informiert hatte, dass zwei Insassen sagten: ‚Wenn wir den Ramazan Demir draußen sehen, dann ist er nicht mehr da.‘ Ich bekomme Drohmails von Extremisten, ich bekomme Drohmails von Rechtsextremisten. Ich habe eine Familie und ein Kind, wieso soll ich mir das noch antun?
Wie ernst muss man solche Drohungen nehmen?
Demir Man kann sie natürlich nicht ignorieren, aber man muss weiterleben. Ich kann ja nicht immer daran denken. Aber ich habe Angst, wenn ich nach draußen gehe. Das ist menschlich. Ich möchte weiter als Leiter der Seelsorge fungieren und sie etablieren. Aber für die Front als Seelsorger habe ich wohl keine Kraft mehr.
Wie sieht die Situation der Seelsorger in den Gefängnissen aus?
Demir Wir haben einen hauptberuflichen Seelsorger, der jährlich durch Spenden der Moscheevereine finanziert wird. Die Politik verschläft einiges, so werden Gefängnisse zur Brutstätte für Radikalismus. Wir müssen etwas tun, um die Radikalisierung zu stoppen, denn das Problem wird größer. Zudem ist Seelsorge ein Menschenrecht, es gibt 2000 Muslime in Österreichs Gefängnissen. Die brauchen mehr als alle zwei Wochen einen Gottesdienst. Der Staat kapiert das immer noch nicht.
Zur Person
Ramazan Demir
Imam, Koordinator zur Fortbildung islamischer Religionslehrer am KPH, Religionslehrer, Generalsekretär der islamischen Gefängnisseelsorger
Geboren 12. Mai 1986
Neues Buch Titel: „Unter Extremisten“, erscheint am 15. Dezember. Verlag: Edition a.