Der Sturm
Folgende Geschichte erzählte mir eine lebhafte Frau an einem Winterabend:
Ihre Urgroßmutter hatte zusammen mit den Eltern und fünf Geschwistern, abseits der Stadt auf einem Hügel, gewohnt. Der Vater war der einzige Mann im Haus, verwöhnte ihn nicht seine Frau, dann war es eine der fünf Mädchen, die ihm die Hausschuhe brachte und das Kissen unter seinen Kopf schob. Sie wohnten friedlich in der friedlichen Umgebung, dunkle Tannen, helle Buchen, grünes Moss, Pilze, Heidelbeeren und Schattenblumen umsäumten das Haus.
Die Mädchen wuchsen heran, der Vater liebte alle gleich, wie er betonte, jede für sich hatte ihren Reiz. Bald würden sie schöne Frauen sein, und so wünschten sie sich, in die Stadt hinunter zu gehen, um sich dort zu zeigen. Sie zogen ihre feinen Kleider an, die besten Schnürschuhe, ihre Taillen waren schmal, und ihre hochgesteckten Haare lösten sich an den Schläfen und ringelten sich zu Locken. Sie fanden Gefallen, saßen im Kaffeehaus, tranken Kakau und erzählten und schauten, mehr schauten sie, als sie erzählten. Sie stellten fest, dass ihnen die Männer nachsahen, was ihnen gefiel. Zu Hause sagten sie ihre Wünsche auf, nichts lieber wollten sie, als in der Stadt Arbeit zu finden, dort in einem Zimmerchen wohnen und nur am Wochenende auf dem Hügel ihre Eltern besuchen. Die größte der Mädchen würde auf die zweitgrößte und die zweitgrößte auf die drittgrößte aufpassen und so fort. Auf die Kleine, die gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, sollten alle ein Auge werfen, sie war die Wildeste, und man musste bei ihr auf vieles gefasst sein.
Der Vater zerstreute die Wünsche, er wollte seine Mädchen nicht der Stadt und den gefährlichen Bewohnern dort überlassen. Seine Mädchen sollten so lange wie möglich bei ihm bleiben. Er hatte für sie eigens ein Stickerei-Häuschen bauen lassen, in dem sollten die Mädchen handarbeiten und sich auf das Leben vorbereiten.
Nun saßen sie in dem hübschen Häuschen und sehnten sich nach der Welt.
An einem Wintertag kam Sturm auf, es wütete und rottelte, Äste stürzten auf das Dach und Scheiben zersprangen. Da sagte die Jüngste so vor sich hin, allerdings mit Hingabe, es war wie ein Gebet: „Bitte lieber Gott, lass einen Blitz in das Stickerei-Häuschen fahren und es niederbrennen.“
Es geschah, kaum zu glauben, aber es geschah. Es geschah noch im selben Augenblick.
Schutt und Asche blieben zurück. Vor allen Dingen aber das schlechte Gewissen des jüngsten Mädchens.
Jahre vergingen, vier ihrer Schwestern hatten sich bereits verheiratet und wohnten in Städten, nur die Jüngste hatte alle Anträge abgelehnt und war bei ihren Eltern geblieben.
Jedes Mal bei Sturm – und oft gab es Sturm in dieser Gegend – nahm sie einen Sessel und stellte ihn in den Flur. Sie trug ihren Wintermantel, hatte eine Tasche auf ihren Knien, darin befanden sich ihr Ausweis, Geld und das Nötigste, so dass, würde es notwendig sein, sie sofort aufspringen könnte, um aus dem Haus zu fliehen. Diese Gewohnheit behielt die Urgroßmutter bei, bis sie starb.
„Die Mädchen wuchsen heran, der Vater liebte alle gleich, wie er betonte, jede für sich hatte ihren Reiz.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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