Ein Herdenbrief

Da morgen in den Kirchen der Bibeltext vorgelesen wird, in dem Jesus sagt: „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11), möchte ich einmal einen Herdenbrief formulieren. Wir kennen ja die Hirtenbriefe der Bischöfe. Warum nicht auch einmal einen Herdenbrief von „unten“ her schreiben? Ich weiß, dass viele Christen ähnlich denken, aber deshalb noch lange keine schwarzen Schafe sind. Es gibt nur einen Hirten, Jesus selbst. Da braucht es keine Oberhirten. Alle, die eine Leitungsaufgabe in der Kirche haben, sind immer nur „Unterhirten“. Ich denke, dass sich gerade Papst Franziskus so fühlt und einer ist, der sich radikal an Christus orientiert. Wenn man aber liest und hört, dass angeblich die Hälfte der Kurienangestellten und „Würdenträger“ im Vatikan gegen den Papst sind, zum Teil sogar öffentlich, und schon planen für die „Zeit danach“, dann wird einem angst und bang. Es wäre gut, wenn sich alle diese Kritiker mehr an Jesus halten würden, der gekommen ist, um uns Menschen zu dienen. Diese Opponenten verdrehen das Wort des Paulus, der schreibt: „Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Diener eurer Freude!“ (2Kor 1,24). Ja, praktizieren sie das?
Die Aufgabe echter Hirten.
Sie laufen normalerweise nicht vor, sondern hinter der Herde, weil die Schafe selbst die guten Weidegründe finden. Nur an schwierigen Stellen gehen die Schäfer voraus. Müssten die Kirchenhirten nicht viel mehr der Christenschar zutrauen, dass sie schon weiß, was für sie gut ist oder nicht? Die Hirten haben nur zu schauen, dass die Schafe einigermaßen beisammen bleiben. Da machen nur die langsamen, trägen Tiere Schwierigkeiten. In der Kirche sind die Beharrer, die nichts ändern wollen, das größere Problem als die Mutigen, die vorwärts gehen. Zudem muss eine Herde immer unterwegs sein, weil sonst das Futter rar wird und die Tiere sich durch den eigenen Kot infizieren und krank werden. Ebenso sollte auch die Kirche immer „vor-läufig“ sein, im doppelten Sinn des Wortes.
Jesus sagt im Hirtengleichnis, dass der gute Hirte 99 Schafe stehen lässt und dem einen verlorenen nachgeht. Heute hat man – sehr überspitzt – den Eindruck, dass 99 davonlaufen und nur eines zurück- bleibt, um das man sich dann in der Kirche besonders kümmert. Deshalb sagt der Papst immer wieder, dass wir als Kirche zu den Menschen hinausgehen und den „Geruch der Schafe“ annehmen sollen. Müssten alle „Unterhirten“ von Rom bis nach Hintertupfing nicht noch viel mehr den Menschen nachgehen?
Ein Pfarrer ist ja nicht nur für die eigenen, braven Schäfchen zuständig, sondern für alle in der Gemeinde, auch für die „Kirchenfremden“ und die Ausgetretenen.
Durchlässe offen lassen
Eine Geschichte erzählt: „Ein Schaf fand ein Loch im Zaun und kroch hindurch. Es war froh, abzuhauen. Der Hirte merkte, dass Wölfe herumschlichen. Deshalb suchte er sein Tier und trug es liebevoll zurück. Aber der Hirte weigerte sich, die Lücke im Zaun zu vernageln.“
Bitte, liebe Unterhirten, lasst ruhig ein paar Schlupflöcher offen. Das Kirchenrecht darf keine undurchdringliche Bretterwand oder Mauer sein. Jesus suchte auch den Kontakt mit den Sündern, Zöllnern und Dirnen, wie es heißt, die moralisch „ausgebüxt“ waren und durch ihn doch zu einem guten Leben zurückgefunden haben. Der Mensch ist letztlich wichtiger als ein allgemeines Gesetz.
Ich möchte eigentlich nicht die anderen kritisieren, sondern darauf hinweisen, dass wir alle an der Hirtensorge Jesu Anteil haben.
Wir sollen im Gegensatz zum Mörder Kain „Hüter unseres Bruders“ sein. Wie es im Psalm 23 heißt, können wir einander „auf grünen Auen lagern lassen“, indem wir den Mitmenschen einen Platz in unserem Herzen geben, sie aufatmen lassen. Wir sollten einander „das Verlangen stillen“, wahrgenommen zu werden, wertgeschätzt, respektvoll behandelt zu werden. „Einander in finsterer Schlucht begleiten“, das brauchen vor allem die, die keinen Ausweg mehr sehen, denen Trauer oder ein Leid das Herz schwer macht.
Damit ist der Herdenbrief immer auch an uns selbst gerichtet.
