Damals
Je älter ich werde, umso mehr vergesse ich. Ich gehe in den Keller, um Mineralwasser zu holen, und wenn ich unten bin, weiß ich nicht mehr, was ich holen wollte. Die Gegenwart geht mir verloren, umso mehr erinnere ich mich an Damals. Es ist wie ein Tor, durch das ich hindurchgehe, und ich bin in der Welt meiner Kindheit. So haarklein fällt mir ein, wie das Strumpfleibchen ausgesehen hat, dass ich im Winter getragen hatte, es war aus Flanell, rosa, und darauf ist mit weißer Schreibschrift gestanden: „Gute Nacht mein Kind, der Abend war heute so schön.“
Ich besuche meine Schwester. Schon am Eingang rieche ich, dass es frischen Zopf gibt. Sie fragt: „Willst du Kaffee oder Tee?“, was sie immer fragt. Ich sage: „Kaffee und Zopf“, und sie sagt, „erst Kaffee, dann Tee, und wenn Otto kommt“ – das ist ihr dünner Mann – „trinken wir noch ein Gläschen. Er hat einen guten Wein.“
Ich frage: „Erinnerst du dich an unser Strumpfleibchen?“, und sie fragt: „Wie kommst du darauf?“ Und ich sage: „Ich denke dauernd an früher.“ Sie weiß noch von dem Strumpfleibchen, an dem Strapse befestigt waren, und daran wurden unsere Wollstrümpfe aufgehängt. Die Wollstrümpfe haben gebissen. „Ja gebissen“, sage ich, und meine Schwester sagt: „Du warst immer so empfindlich.“ Ich frage: „Erinnerst du dich noch an Steffi?“ – „Ja“. Sie erinnert sich, aber vage. Steffi war die junge Frau, die auf uns aufgepasst und für uns gekocht hat, wenn unsere Mutter wieder einmal im Krankenhaus war. Leider war sie oft im Krankenhaus. Wir schauen uns nicht an, wenn wir beide an unsere Mutter denken, und obwohl es bald sechzig Jahre her ist, als sie gestorben war, dürfen wir uns nicht in die Augen schauen.
Kurz sind wir ganz still.
„Ja Steffi“, sage ich, „ich habe sie gehasst.“ Sie wollte uns erziehen, zu mir hat sie gesagt, ich sei verwöhnt und deshalb verdorben. Sie hat mich gezwungen, den Regenmantel anzuziehen, obwohl es nicht regnete.
„Du übertreibst“, sagt meine Schwester.
Ich übertreibe nicht, ich sehe alles klar vor mir. Steffi konnte auch nicht kochen, und als ich einmal zur Strafe hundert Mal schreiben musste: „Ich habe das Fräulein angelogen“ – das Fräulein war unsere Lehrerin, und ich hatte tatsächlich gelogen, als sie mich gefragt hatte, ob ich mit dem Sessellift vom Bürserberg auf die Tschengla gefahren bin, habe ich „Nein“ gesagt, obwohl ich mich mit meinen Schiern zwischen die Urlauber gedrängt hatte, wir durften nämlich nicht mit dem Lift fahren, wenn viel Gäste unterwegs waren, in den Lift passten gerade fünf Personen, meine Schwester ist mit den Schiern auf dem Rücken zwei Stunden zu Fuß nach Hause gegangen – da gab mir Steffi Zettel und Stift und sagte: „Schreib! Schreib: Ich habe das Fräulein angelogen!“ Ich schrieb untereinander hundert Mal „Ich“, dann hundert Mal „habe“, dann hundert Mal „das“ … Steffi nahm mir das Blatt weg und sagte: „So geht das nicht!“
Meine Schwester konnte sich daran nicht erinnern.
Meine Schwester ist am 1. März geboren, und man erzählt sich, dass mein Vater meine hochschwangere Mutter auf die Rodel gebunden hatte und sie von Schnepfau, wo wir wohnten, nach Au geschoben hat. In Au war nämlich das Entbindungsheim. Tiefer Winter war, und gerade kamen sie noch rechtzeitig an.
„Ich besuche meine Schwester. Schon am Eingang rieche ich, dass es frischen Zopf gibt.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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