Mein Vater
Vor dreißig Jahren ist mein Vater gestorben. Er, der Bücherliebhaber, war gerade dabei, Pakete von Büchern auszupacken, und dabei war er so aufgeregt, dass ihn ein Hirnschlag ereilte, an dem er bald darauf verstarb.
Wir waren eine Bücherfamilie. Lesen, lesen und wieder lesen. Mein Vater hat es uns vorgezeigt. Er saß in seinem Lehnstuhl, umringt von lärmenden Kindern, die ihre Autos um seine Stuhlbeine fahren ließen. Es störte ihn nicht. Er war versunken im Herz der Finsternis.
Mein Vater wurde als Kind einer Magd in Mariapfarr im Lungau geboren. Er wohnte mit seiner Mutter und deren blinder Schwester in einem Zimmer, das ein Haus war. Der Boden war aus Lehm. Es gab ein Fenster, das in den Süden zeigte. Die Mutter arbeitete bei der Herrschaft, und der kleine Bub wurde von seiner blinden Tante betreut. Er war ein fleißiger Schüler und fiel auf. Ein blasser Bub mit schwarzen Haaren und auffallenden Wangenknochen. Sein Freund war der Sohn des Baumeisters, der, so erzählte mein Vater, tatsächlich eine Bibliothek von siebenhundertdreiundvierzig Büchern besaß. Als mein Vater das hörte, zitterte er vor Aufregung. Der Freund nahm ihn mit nach Hause, und mein Vater fuhr mit seinen mageren Fingern über die Buchrücken. Der Baumeister erlaubte ihm, er könne jederzeit kommen und seine Bücher anschauen, ausleihen würde er aus Prinzip nicht. So kam mein Vater, setzte sich an den Tisch am Fenster und schrieb in sein mitgebrachtes Heft aus den Büchern ab. „Der Zauberberg“ von Thomas Mann füllte fünf linierte Hefte. Seine Schrift war gut lesbar. Weil er so klug und fleißig war, sprach der Pfarrer mit seiner Mutter und sagte, er müsse unbedingt Pfarrer werden. Das gefiel der Mutter. „Aber er ist so zart“, sagte die blinde Tante „ob er das aushalten kann?“
„Er kam nach Russland und auf einem Lastwagen erfror ihm das rechte Bein.“
Krieg war. Verwüstung war. Der Mensch war nichts wert. So wurde mein Vater mit siebzehn Jahren, gerade vor der Matura, eingezogen. Er kam nach Russland und auf einem Lastwagen erfror ihm das rechte Bein. Es musste amputiert werden.
Jahre später machte er die Matura nach, für ein Studium war es zu spät. Er war verheiratet und hatte bereits zwei Mädchen. Also nahm er die Arbeit eines Verwalters an. Seine Arbeitsstätte war auf der Tschengla im Kriegsopfererholungsheim, wo es zum Glück einen Lesesaal gab, den mein Vater von nun an mit Büchern bestücken wollte. Seine Arbeit bestand darin, das Haus zu verwalten und die Kriegsversehrten zu betreuen. Die übrige Zeit widmete er sich dem Studium der Chemie und zeigte uns Mädchen, wie sich Flüssigkeiten verfärben.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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