Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

Das Ringlein

Vorarlberg / 27.03.2019 • 20:59 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

Das Zimmermädchen öffnete die Tür, legte die frische Wäsche auf den Tisch und begann mit ihrer Arbeit. Sie zog die Daunendecke von der Matratze, und da fand sie auf dem Leintuch einen Ring. Ein Ringlein wie von einem Kind mit einem roten Stein. Sie steckte es in ihre Mantelschürze. Ihr war bekannt, dass dieses Zimmer von einem Mann für eine Woche reserviert worden war. Sie war einmal von ihm überrascht worden, als sie sein Waschbecken geputzt hatte. Er war groß, sie schätzte ihn auf vierzig, er lächelte sie an und gab ihr fünf Euro.

Im Hotel gab es ein Mädchen, Rosa, vier Jahre alt, die der Liebling aller war. Ihr wurde erlaubt, im Speisesaal herumzuspazieren. Sie war die Tochter der Speisesaal-Aufsicht. Die Gäste waren entzückt, wenn sie sie sahen. Sie war nicht gerade wie die süßen Mädchen in den Kalendern, sie hatte eine herbe Ausstrahlung, mit der sie aber jeden bezauberte. Ihr Zauber würde wahrscheinlich verschwinden, wenn sie erst erkannt hätte, was die Menschen fühlten, wenn sie sie ansahen. Manchmal wurde sie an einen Tisch geladen und durfte die Nachspeise probieren. Um 19 Uhr brachte sie die Mutter in das Zimmer im Keller des Hotels, das den beiden als Wohnung diente.

„So war es geschehen, dass der nämliche Mann Rosa entdeckt und sie mit auf sein Zimmer genommen hatte.“

An dem Tag, als das Zimmermädchen den Kinderring auf dem Leintuch gefunden hatte, traf sie Rosa weinend im Speisesaal. Sie war traurig, weil sie ihren Ring verloren hatte. Das Zimmermädchen griff in ihre Schürzentasche:

„Ist es vielleicht der?“, fragte sie.

So war es geschehen, dass der nämliche Mann Rosa entdeckt und sie mit auf sein Zimmer genommen hatte. Die Mutter hatte nach ihr gesucht, und als das Kind nicht auffindbar war, fragte sie das Zimmermädchen. Die erzählte ihr von dem Ringlein auf dem Leintuch und ihrer Vermutung.

Die Mutter überlegte. Das Zimmermädchen überlegte und wollte die Beobachterin spielen. Die Mutter von Rosa überlegte sich weiters, dass mit Rosa Geld zu verdienen wäre, und wenn der Mann nichts weiter als das Kind beschenken wollte, sollte man unbedingt mit dem Mann sprechen. Das Zimmermädchen wies ihr die Tür mit der Zimmernummer 9.

Rosas Mutter klopfte an, der Mann öffnete, sie sah durch den Türspalt Rosa mit einer Stoffkatze auf dem Bett sitzen.

Der Mann erzählte der Frau, er habe gerade vor einem Monat seine Tochter durch einen Unfall verloren. Er öffnete die Brieftasche und zeigte ein Foto. Er fragte, ob es möglich wäre, dass Rosa eine Stunde noch bei ihm bliebe, er würde sich erkenntlich zeigen. Er gab der Frau drei Scheine und sie verabschiedete sich.

Vor dem Schlafengehen ging die Mutter in ein leeres Hotelzimmer und setzte Rosa in die Badewanne. Sie ließ Wasser einlaufen, seifte das Kind ein und schaute es dabei genau an.

„Was schaust du so komisch“, fragte Rosa. „Lass mich! Ich will allein sein.“

Monika Helfer
monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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