Sie war mein Liebling
„Nein“, sagte die nicht mehr junge Frau, „nein, sie ist immer noch mein Liebling.“ Sie wischte sich über die Augen und schaute an mir vorbei.
„Ich kann mich erinnern“, sagte ich, „du hast nur von ihr geredet, deine anderen Enkel kamen gar nicht vor.“
„Du hast sie gesehen, immer wieder von klein auf, war sie nicht das bezauberndste Geschöpf?“
„Sie hat dich an dich selbst erinnert, du dachtest, sie wird wie du, aber das war deine Einbildung. ‚Immer’ gibt es nicht.“
„Sie war ein scheues Mädchen“, erinnerte ich mich, „sie hat deine Introvertiertheit.“
„Was ist nur geschehen?“, jammerte die nicht mehr junge Frau. „Sie ist in schlechte Gesellschaft geraten, sie hat sich mit ihrer Mutter überworfern. Ihre Mutter sagt, sie hat ein Herz aus Stein, sie ignoriert sie, und wenn sie etwas sagt, wird sie frech. Sie hat in der Schule versagt, wo sie doch so fleißig gewesen war. Sie wusste sich keinen Rat.“
„Sie ist in der Pubertät“, sagte ich. „Vergiss das nicht! Wäre sie noch so brav wie ehedem, dann müsstest du dir Sorgen machen.“
Die nicht mehr junge Frau hatte das Mädchen zu sich eingeladen, sie sollte so lange bleiben, wie sie es wünschte.
„Gib ihr kein Geld““, hatte die Mutter gesagt. „Sie wird sich Drogen kaufen, du wirst sie nicht wieder erkennen.“
„Die Großmutter hatte nicht einschlafen können, sie war voll Sorge.“
Das Mädchen begrüßte die Großmutter distanziert. Gleich nach der Ankunft verkroch sie sich im Bett. Erst am nächsten Morgen gelang es der Großmutter, ihr ein wenig nahe zu kommen, und das Mädchen fragte:
„Hat dir die Mutter erzählt, ich sei ein Junkie?“
Die Großmutter beruhigte sie, sie gab ihr Taschengeld. Das Mädchen rauchte viel, und das Handy war wie angewachsen in ihrer Hand. Am Vormittag schlief sie, am Nachmittag ging sie zum Baden, am Abend schaute sie mit der Großmuttzer langweilige Filme an. Als ein Gepard ein Gazellenjunges riss, bedeckte sie ihr Gesicht.
Nach zwei Wochen Harmonie ging das Mädchen kurz weg, wie sie sagte, sie kam erst drei Stunden später. Ihre Oberlippe war geschwollen, und sie hatte einen großen roten Fleck am Has. Die Großmutter machte Kakao und fragte nicht.
In der nächsten Nacht kam das Mädchern erst um fünf Uhr nach Hause. Die Großmutter hatte nicht einschlafen können, sie war voll Sorge. Um vier Uhr hatte sie ihre Enkelin am Handy angerufen. Sie hatte nicht abgenommen.
Die Großmutter fragte mich um Rat, und ich sagte, sie müsse mit ihr reden.
„Ich glaube“, sagte die nicht mehr junge Frau, „ich kann dass nicht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich möchte einfach keine Sorgen mehr haben müssen. Kann es kein Gesetz geben, das festschreibt, dass ein Mensch ab einem gewissen Alter keine Sorgen mehr haben darf?“
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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