Die Wahrheit
Folgendes erzählte mir eine Bekannte – wir trafen uns zufällig, und weil die Sonne so freundlich war, setzten wir uns auf einen Stein:
„Als ich neun Jahre alt war, sagte ich die ganze Wahrheit, und es war eine Katastrophe. Mein Vater, der immer zu gern ins Glas geschaut hatte und dann noch mit dem Auto fuhr, sollte mich von der Schule abholen. Ich wartete bereits seit über zwei Stunden, hatte meine Hausaufgaben auf der Treppe erledigt und ein gutes Stück von einem Schal gestrickt, den ich meiner Mutter schenken wollte, wenn sie aus Hamburg zurückkam. Sie war nach einem Streit mit meinem Vater – vermutlich ging es wieder um Alkohol – weggefahren. Ich blieb bei meinem Vater, besorgte den Haushalt, was ich konnte, und wärmte Mutters Tiefkühlessen auf. Er kam nie zur richtigen Zeit. Alles musste wieder aufgewärmt werden. Oft brannte das Essen am Boden an, aber er beschwerte sich nie und lobte mich für meine Bravheit. An diesem unglückseligen Tag sah ich meinen Vater um die Kurve biegen, und ich wusste, er war betrunken. Er war sehr blass und musste sich erst einmal sammeln, wie er sagte. Dann: Er könne beim besten Willen nicht mehr fahren, ob ich das verstehe. Natürlich verstand ich und sagte, nehmen wir den Bus, der kommt in einer halben Stunde. Mein Vater wollte sich, so wie er sich fühlte, im Bus nicht sehen lassen, und er fragte mich schüchtern, legte seinen Kopf auf die Seite und fixierte mich. Er war charmant. Das war sein großes Plus.
Du kannst doch Auto fahren, sagte er zu mir. Ja, das stimmte, er hatte es mir gezeigt, vor einem Monat, ich hatte mich sehr geschickt angestellt.
Nein, Papa, sagte ich, das traue ich mir nicht zu – wir waren bisher nur auf Wald- und Flurwegen gefahren, auf einer Hauptstraße war ich noch nie am Lenkrad gesessen.
Dann also nicht, sagte er, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Viel zu langsam. Einem Blinden mit Krückstock wäre aufgefallen, dass da etwas nicht stimmte. Schon kam uns ein Radfahrer entgegen, ein Bub aus der Schule, den ich kannte, drei Stufen über mir. Mein Vater streifte ihn, obwohl er rasch auf die Seite gelenkt hatte. Der Bub fiel hin, das Rad war verbeult. Mein Vater stieg aus und holte seine Geldtasche aus dem Sakko, gab dem Bub einen Fünfziger, bat ihn, nichts zu Hause zu erzählen, er würde ihm ein neues Rad kaufen, ob er sich weh getan habe.
Ich sagte, ich steige nicht mehr ins Auto, wir gehen zu Fuß, aber mein Vater wankte, und wieder schaute er mich schief an. Also gut, sagte ich, ich probier’s. Setzte mich ans Lenkrad und fuhr los. Die Polizei hielt uns auf, sie hatte, weil ich so klein war, niemand am Steuer gesehen. Mein Vater und ich wechselten Platz, aber die Polizisten hatten es bemerkt.
Es gab eine Gerichtsverhandlung. Der Anwalt meines Vaters bleute mir ein zu lügen, und als ich dann vor dem Richter stand und gefragt wurde, wer am Steuer gesessen hatte, vermied ich, meinen Vater anzusehen und sagte: Ja. Ich bin gefahren.“
„Einem Blinden mit Krückstock wäre aufgefallen, dass da etwas nicht stimmte.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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