Gerechtigkeitsgefühl
Gerechtigkeit zählt zu den elementarsten Werten der menschlichen Gesellschaft, Gerechtigkeitsgefühl zu den sensibelsten psychischen Eigenschaften. Gerechtigkeit ist eine Grundnorm menschlichen Zusammenlebens, ein Gebot der Sittlichkeit, die höchste Form der Verantwortung, eine einzigartige innere Einstellung, eine Kardinaltugend. Als ein für den Menschen niemals erreichbares Ideal wird sie als göttliche Größe gepriesen. Denn wahre Gerechtigkeit könne es niemals auf Erden, sondern nur im Himmel geben.
„Das Gerechtigkeitsgefühl motiviert Helfer und Idealisten, stachelt Demonstranten und Reformer an, treibt aber auch Revolutionäre und Kämpfer.”
Das Ringen um Gerechtigkeit durchdringt unseren Alltag und begleitet uns von der Wiege bis zur Bahre: Gibt es die gerechte Erziehung, werden Lob und Tadel gerecht gegeben, wurden wir ungerecht benotet? Ist die Hausarbeit gerecht verteilt, bekommen wir den gerechten Lohn, wurde das Erbe gerecht aufgeteilt? In der gesellschaftspolitischen Diskussion geht es um Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit, um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, um gerechte Bildungs- und Aufstiegschancen, um Generationen- und Umweltgerechtigkeit. Die Arbeit der Gerichte besteht aus nichts anderem als der Suche nach Gerechtigkeit. Welch hohen Wert das Finden wahrer Gerechtigkeit für unsere Gesellschaft hat, zeigt sich in der Tatsache, dass die Justizindustrie inzwischen zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige geworden ist.
Das Gerechtigkeitsgefühl motiviert Helfer und Idealisten, stachelt Demonstranten und Reformer an, treibt aber auch Revolutionäre und Kämpfer. Sogenannte Querulanten, die nichts anders sind als Gerechtigkeitsnarzissten, streiten um ihre Gerechtigkeit, oft bis zum bitteren Ende. In der aktuellen österreichischen Politdiskussion geht es wesentlich um die Frage, welche Sanktionen für die Hauptdarsteller des Ibizavideos gerecht sein könnten, ob das Misstrauen gegen die gesamte Regierung gerechtfertigt sei oder ob den Forderungen der Oppositionsparteien endlich Gerechtigkeit widerfahre. Die Befriedigung der individuellen Gerechtigkeitsbedürfnisse ist jedem Einzelnen extrem wichtig, da diese viel mit Selbstbewusstsein zu tun haben und jegliche Ungerechtigkeit als persönlicher Angriff empfunden wird.
Den wahlwerbenden Parteien sei für die nächsten Wochen im Kampf um das Vertrauen geraten, nicht nur an die soziale Gerechtigkeit zu appellieren, sondern zu bedenken, dass das menschliche Individuum auf kaum etwas empfindlicher reagiert, auch in der Wahlzelle, als auf Verletzung seines Gerechtigkeitsempfindens – auf welcher Ebene auch immer.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.
Kommentar