Monika Helfer

Kommentar

Monika Helfer

War das erfunden?

Vorarlberg / 24.09.2019 • 19:27 Uhr / 5 Minuten Lesezeit

Ich saß im Wartesaal und hörte einer Frau und einem Mann zu, sie sprachen leise, dann laut, ich hatte auch den Anfang ihrer Geschichte versäumt und hoffte, ich könnte sie zu Ende hören. Andere Patienten lasen in Zeitschriften, ein Mädchen spielte mit kleinen Autos, sie gab Bremsgeräusche von sich, und wenn sie beschleunigte, wechselte sie in hohe Töne.

„Du kannst mir das glauben oder nicht“, sagte eben die Frau, „so ist es mir erzählt worden und so erzähle ich es dir.

Also dieser noch junge Mann war eben Vater geworden, kurz glücklich über sein Kind, dann genervt vom Schreien, die ganze Nacht hindurch wiegte er das Kind in seinen Armen. Die Frau schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, sie beendete gerade ihr Studium und lernte für die letzte Prüfung. Tagsüber arbeitete der Mann in einem Büro, er hatte Berechnungen auszuführen und brauchte dafür seine ganze Konzentration. Da war das Baby bei einer Nachbarin, die dafür zwanzig Euro die Stunde verlangte. Der Mann war erschöpft. Er konnte nicht mehr. Vergebens bat er seine Frau, ihre Prüfung zu verschieben. An einem Morgen rief er seinen Chef an und sagte, das Kind sei krank, er könne nicht kommen. Nur ungern wurde sein Fernbleiben akzeptiert. Am nächsten Tag Mann rief er wieder an, der Chef war ungehalten, und der Mann wusste, es gab Anwärter auf seinen Job. Das Kind liegt im Krankenhaus, sagte der Mann. Was es denn habe, fragte der Chef. Es werde noch untersucht, aber man sei in großer Sorge, er könne und wolle nicht von der Seite seines Kindes. Der Mann ging zur Nachbarin und sagte, er habe Urlaub und bringe das Kind erst in zwei Wochen wieder. Wieder rief er im Büro an, diesmal sagte er das Wort: Leukämie. Am anderen Ende der Leitung wurde es ganz still. Das Baby lag in seinem Bettchen, war frisch gewickelt und gefüttert und schlief, kerngesund. Der Vater machte sich in Wikipedia kundig und ihm schauderte. Wieder rief er im Büro an, sagte zu allem Übel sei zu der Krankheit eine gefährliche Infektion gekommen. Der Vater nahm das Kind in seine Arme und stellte sich an das geöffnete Fenster in die Sonne. Er war ganz bei sich und dem Kind. Aber er war auch außer sich. Weil er tat, was er tat. Seine Frau sah er nur kurz, sie koste das Kind und strich ihm über die Haare, dann fiel sie in ihren Schlaf.

Der Morgen, an dem der Mann am Telefon diesen verhängnisvollen Satz sagte, der hieß: Es ist von uns gegangen – war der schwärzeste in seinem ganzen Leben. Er schaute kurz im Büro vorbei, um sich zu zeigen, die Kollegen gaben ihm kleine Kärtchen mit Beileidsbezeichnungen, hatten Geld in einem Plastiksack gesammelt, brachten ihm Süßigkeiten und Gesalzenes. Er war gerührt. So liebe Menschen. In zwei Tagen würde das Begräbnis sein. Zu Hause wusch der Vater das Kind, kerngesund, zog ihm seinen schönsten Strampler an, den mit den Sternen, und legte es in die frisch überzogene Wiege. Dann ging er aus der Wohnung, setzte sich in einen Zug, dann in ein Flugzeug, und ward nie mehr gesehen …“

„Der Schluss“, hörte ich den Mann im Wartesaal sagen, „den Schluss hast du dir ausgedacht, gib’s zu!“

„Ja“, sagte die Frau.

„Und wie war’s wirklich?“

Da wurde ich aufgerufen.

„Die Frau schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, sie beendete gerade ihr Studium und lernte für die letzte Prüfung.“

Monika Helfer

monika.helfer@vn.at

Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.

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