Wahlkampf – die andere Seite
Werden Politexperten, Kommentatoren und Wähler zum Wahlkampf befragt, fallen die Analysen meist ähnlich aus, nämlich sehr negativ. Fast jeder zeigt sich distanziert, ablehnend, empört, oft persönlich gekränkt. Wahlkämpfe seien primitiv, unsachlich, beschämend und verlogen. Alles nur Show, die Inhalte nichtssagend, die Kosten ein Skandal. Die Parteien werden, je nach Antipathie, gnadenlos verurteilt, die Wahlparolen niedergemacht, die Kandidaten verhöhnt. Meist enden die Klagen in der Formel von der Politikverdrossenheit und mit der Versicherung, selbst die Dinge „ganz objektiv“ zu betrachten.
„Die Parteien werden, je nach Antipathie, gnadenlos verurteilt, die Wahlparolen niedergemacht, die Kandidaten verhöhnt.“
Dabei haben Wahlkämpfe einiges zu bieten. Sie wären die „hohe Zeit der Demokratie“ und geben dem Einzelnen das Gefühl, endlich wichtig zu sein. Sie dienen der Reflexion und Kontrolle, also der Polithygiene. Wenn man sich die Mühe des Aufgreifens macht, liefern sie neue Konzepte und zeigen, wohin die gesellschaftliche Reise geht. Psychologisch sind sie ideale Projektionsflächen für unsere Gefühle, von Idealisierung und Verehrung über Frustration und Aggression bis zu Neid und – besonders im Internet – zu Hass reichend. Schließlich ist der Unterhaltungswert der Wahlduelle nicht zu unterschätzen, wovon die trotz inflationärer Häufigkeit hohen Einschaltquoten zeugen. Wenn Wahlkämpfe, wie allseits gefordert, sachlicher werden sollen, müssen wir uns auch selbst an der Nase nehmen. Steht die Sensationsgier im Vordergrund, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Kleinigkeiten medial zu Großskandalen stilisiert werden. Wenn manche Moderatoren jede fundierte Antwort sofort mit dem Hinweis „viel zu kompliziert für die Zuschauer“ abwürgen, wird zum Ausdruck gebracht, was man von denen vor den Geräten hält. Werden Diskussionen, die sich tatsächlich mit Inhalten befassen, sofort als langweilig kommentiert, kann das Niveau nicht steigen. Unzweifelhaft würden Wahlkämpfe menschlicher, wenn wir daran denken, wie sich der enorme Druck auf die Kandidaten bei uns selbst anfühlte. Und die vielgescholtenen Politiker können ihren Anteil leisten, wenn sie Angriffe auf Person und Charakter der Mitbewerber unterlassen. Durch nichts brächten sie ihre Souveränität besser zum Ausdruck.
All jenen, die durch die laufenden Wahlkämpfe trotzdem frustriert sind, mag das Wort des Philosophen Heraklit vom Krieg als Vater aller Dinge hilfreich sein. Er wollte damit zum Ausdruck bringen, dass sich im Wechselspiel der Meinungen die besten Ideen entwickeln können – vielleicht auch im Wahlkampf.
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut
und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.
Kommentar