Die Tigerdecke
Vater und Mutter waren geschieden. Ihr Mädchen pendelte von einer Wohnung zur anderen. Der Vater hatte eine jüngere Frau gefunden, das war auch der Grund für die Scheidung gewesen. Die Mutter lebte allein und hatte nur mehr ihre Tochter, was sie ihr täglich ins Ohr flüsterte – „du bist mein Einziges“.
Einmal war die Tochter – sie hieß Ava, weil der Vater Ava Gardner vergötterte (seine neue Frau hatte auch etwas von der Diva), also Ava hatte bei ihrem Vater und seiner neuen Frau übernachtet, da hatte sie von ihr die wunderschöne Tigerdecke zum Zudecken bekommen. Es war kalt in der Nacht, und Ava wickelte sich in diese Decke ein – sie roch so herrlich nach einem exotischen Duft. Auch am nächsten Tag, obwohl schon wärmer, saß Ava in die Tigerdecke eingehüllt beim Frühstück, dann am Nachmittag legte sie sich die Tigerdecke um ihre schmalen Schultern, als sie auf dem Balkon saßen und Karten spielten, der Vater, die neue Frau und Ava.
Am nächsten Morgen weckte der Vater Ava für die Schule, sie sagte, sie fühle sich krank, und der Vater rief bei seiner geschiedenen Frau und in der Schule an, um Ava zu entschuldigen. Am Mittwoch kam die Mutter zu ihrem Exmann, um Ava abzuholen. Er war nicht da, nur die neue Frau war da. Avas Mutter fand die Wohnung viel chicer als ihre, so exklusiv, Lampen, das Sofa extrem modisch. Die Mutter ließ sich in einen geblümten Sessel fallen. Ava kam, in die Tigerdecke eingewickelt, und die Mutter befahl ihr, sich anzuziehen, sie habe wenig Zeit. Ava weinte. Da sagte die neue Frau: „Ava, ich schenke dir die Tigerdecke, immer, wenn dir kalt ist, soll sie dich wärmen.“ Die Mutter protestierte, sie hätten selber genug Decken zu hause, sie wolle das nicht.
„Aber ich will“, sagte Ava unter Tränen, und um die Sache zu beschleunigen, ging sie mit der Mutter mit, die Tigerdecke nah an ihrem schmalen Körper.
Ganz offensichtlich war die Tigerdecke ein Ärgernis für die Mutter, und so kaufte sie am nächsten Tag eine sehr hübsche geblümte Kuscheldecke und schenkte sie Ava. Die aber wollte nur die Tigerdecke um sich. Die Mutter war frustriert, so sehr, dass sie, als Ava in der Schule war, die Tigerdecke verschwinden ließ, sie steckte sie unter die Altkleider in einen Sack. Ava kam und fror, und nirgends war die Tigerdecke.
„Nimm doch meine geblümte Kuscheldecke, die ist viel edler, die Tigerdecke ist ein Synthetikdreck, ich hab sie gewaschen und sie ist ganz schlecht geworden. Sie sieht abscheulich aus!“
„Avas Mutter fand die Wohnung viel schicker als ihre, so exklusiv, Lampen, das Sofa extrem modisch.“
Monika Helfer
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Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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