Demokratie vor 900 Jahren

Vorarlberg / 30.12.2019 • 14:00 Uhr / 5 Minuten Lesezeit
Demokratie vor 900 Jahren
Hildegard Brem hat sich eingehend mit dem Dokument befasst. KATHOLISCHE KIRCHE/ MATHIS

Zisterzienser feiern den 900. Geburtstag ihrer Verfassung. Das Dokument ist „topmodern“.

Bregenz Der Weg führt schnurstracks ins 12. Jahrhundert. Unruhige Jahre sind das. Kaiser und Papst kämpfen um die Macht. Es ist die Zeit der Kreuzzüge, aber auch England und Frankreich liegen im Dauerclinch. Das Rittertum erblüht. Man kann das heute noch lesen. Der Roman von König Artus stammt aus dieser Zeit. Aber schon setzt das Bürgertum seine Waffen dagegen: Wirtschaft und Handel. Die ersten Windmühlen drehen sich in Europa und zu den Verkaufsmessen reisen Kaufleute und Handwerker von weit her in die Champagne.

Und die Kirche? Die reformiert sich. Das geschieht vor allem in den Klöstern. Cluny in Burgund wird zum Zentrum einer solchen Reformbewegung. Denn Mönchsgemeinschaften florieren. 1500 Klöster zählt der Verband in seiner höchsten Blüte. Die Burgunder Benediktinerabtei steht allen vor. Das kann man sich kaum vorstellen. „Mehr als 20.000 Menschen umfasste der Verbund, der das ganze Abendland wie ein enges Netzwerk durchzog“, sagt Hildegard Brem. Die Äbtissin von Mariastern-Gwiggen in Hohenweiler hat viel zur Ordensgeschichte gearbeitet. Vor allem über jenes Dokument, das heuer am Vorabend von Weihnachten 900 Jahre alt wird.

Wie eine Monarchie

Wie war so ein gewaltiger Verband strukturiert? „Cluny wurde von einem Großabt regiert.“ Der wurde nicht gewählt, sondern hat jeweils seinen Nachfolger „herangezogen“. Der Generalabt erinnert an einen absolutistischen Herrscher. „Er war praktisch letztverantwortlich für alle Angelegenheiten der ihm unterstellten Klöster. Der ganze Orden war in Wirklichkeit ein einziges riesiges Kloster.“ Das entsprach dem Zeitgeist. Sieht aus wie ein riesiges Familienunternehmen. Aber mit seinem Umfang wachsen die Probleme.

Der Stern Clunys beginnt zu sinken, als die Zisterzienser auf den Plan treten. Das Mutterkloster des ersten Zisterzienserklosters Cîteaux ist Mosleme im Nordwesten Frankreichs. Hildegard Brem nennt Mosleme augenzwinkernd „eine Art Mistbeet der monastischen Reform des 12. Jahrhunderts“. Sie leben strenger dort als anderswo. Suchen nach den Wurzeln monastischen Lebens. Das provoziert Konflikte, auch handgreifliche: Abt Alberich etwa soll „Schmähungen, Kerker und Schläge“ erlitten haben. „Wenn Menschen um etwas ringen, was ihnen besonders teuer ist, kann das schon mal aus dem Ruder laufen“, sagt Hildegard Brem.
In diesen oft hitzigen Auseinandersetzungen in Mosleme, später in Cîteaux, Pontigny und anderen Stätten schmiedete der neue Orden der Zisterzienser vor 900 Jahren seine Verfassung. Sie heißt „Carta Caritatis“. Papst Kalixt II. bestätigt sie am 23. Dezember 1119. Der Name lockt den Leser auf eine falsche Fährte. Statt einer Meditation über die Liebe findet er ein Reglement des Zusammenlebens. Die Zisterzienser gehen dabei völlig neue Wege.

Die Carta Caritatis ist im Grunde eine hochmoderne Verfassung, das Dokument wird am 23. Dezember 2019 900 Jahre alt. <span class="copyright">Hildegard Brem</span>
Die Carta Caritatis ist im Grunde eine hochmoderne Verfassung, das Dokument wird am 23. Dezember 2019 900 Jahre alt. Hildegard Brem

Die einzelnen Gemeinschaften sind untereinander als Mutter- und Tochterklöster verbunden, wirtschaftlich aber völlig unabhängig. Kein Kloster darf Abgaben einfordern. Im Notfall sind alle zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet. Die Zisterzienser setzen nicht den Generalabt, sondern das Generalkapitel aller Äbte als oberstes und einziges gesetzgebendes Organ ein. Der Abt von Cîteaux führt zwar den Vorsitz, hat aber sonst keine gesonderten Rechte. Die Äbte der einzelnen Klöster werden demokratisch gewählt. Die Äbte der Tochterklöster sind an der Abtwahl im Mutterkloster beteiligt. Das gilt auch für Cîteaux. Was geschieht bei Streit und Uneinigkeit im Generalkapitel? Dann muss der Abt von Cîteaux die Frage einer Kommission von vier Äbten vorlegen, die dann eine Entscheidung trifft, die alle akzeptieren müssen. „In unserer Zeit ist man sensibel geworden für Sicherheitseinrichtungen in demokratischen Verfassungen, die eine zu große Konzentration der Macht oder eine missbräuchlich autoritäre Machtausübung verhindern sollen“, betont Äbtissin Hildegard Brem. Einer der Grundsätze besteht darin, dass der oberste Leiter auch selbst kontrolliert wird und nicht willkürlich seine Macht gebrauchen kann. „Das sieht auch die Carta Caritatis vor, und zwar schon in ihrer ersten Fassung unter Stephan Harding.“ Bereits hier steht fest, dass das Mutterkloster Cîteaux und sein Abt derselben Kontrolle unterliegen, die für die anderen Klöster gilt.

Die Carta Caritatis trägt hochmoderne Züge. Das Dokument weist freilich einen Weg, „der wegen seiner dezentralen Struktur große Ansprüche an die Teamfähigkeit und soziale Kompetenz stellt“, so Brem. Das System versagte immer dann, wenn die Gespräche durch Machtkämpfe und Spannungen überschattet waren.

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