Wer lebt, verändert sich

„Panta rhei.“ Wir kennen sie alle, die uralte Lebenserfahrung, dass alles Irdische im Fluss ist. Unser Leben, die gesamte Schöpfung ist in ständiger Bewegung und Entwicklung. Darüber hat schon Heraklit von Ephesus vor 2500 Jahren eindrücklich philosophiert. Veränderung ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. „Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen“, um beim bekannten Bild von Heraklit zu bleiben. Und obwohl wir eigentlich wissen, dass Veränderung die einzige Konstante in unserem Leben darstellt, dass sie etwas Naturgegebenes ist, meiden und fürchten wir sie wie kaum etwas anderes.
Interessanterweise war nichts so entscheidend und charakteristisch für das Leben und Wirken Jesu, wie die Wandlung und Veränderung. Ich meine nicht bloß, dass Jesus Kranke gesund gemacht oder Wasser in Wein verwandelt hat. Bemerkenswerter scheint mir die Wandlung, die er im Innersten zahlreicher Menschen bewirkt hat allein durch sein Sein. Das Evangelium des morgigen Sonntags erzählt, wie Jesus nur durch die Art und Weise seiner Einladung, seiner Ausstrahlung gestandene Männer aus ihrem Berufsalltag heraus in ein neues Dasein gerufen hat.
Liebe als Motor der Entwicklung
Die Suche nach dem Grund und der Möglichkeit solcher Wirkkraft rührt an die Frage nach dem Wesen jener Wirklichkeit und Erfahrung, die wir Menschen Gott oder Liebe nennen, und die nach unserem Glauben in Jesus von Nazareth ein konkretes Gesicht und einen konkreten Namen bekommen hat. Der französische Jesuit, Naturwissenschaftler und Mystiker Teilhard de Chardin, der seiner und unserer Zeit in der Gesamtschau der Schöpfungswirklichkeit weit voraus war, sah in der Liebe „die universellste, die ungeheuerlichste und die geheimnisvollste der kosmischen Energien“. Sie ist gleichsam der Motor für jegliche Entwicklung und Veränderung in Raum und Zeit und im Herzen von Jesus Christus vollkommen verwirklicht. Teilhard ruft uns in Erinnerung, was die Menschen damals bei der Begegnung mit Jesus erfahren haben: Dass in der universalen Kraft und Dynamik der Liebe der Schlüssel zum Heil, zur Vollendung, zu jeglichem materiellen und geistigen Wachsen und Reifen liegt.
Mensch zu werden, Veränderung zuzulassen und uns ständig zu wandeln fällt uns oft schwer, weil Ängste, Unsicherheiten und Zweifel uns lähmen, weil wir kein oder wenig Vertrauen in das Leben, in die Zukunft, in Gottes Gegenwart haben. Der deutsche Theologe und Schriftsteller Lothar Zenetti schrieb vor Jahren folgende Zeilen zum Thema Wandlung, die uns immer wieder aufhorchen lassen müssen: „Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Kirche. Sie werden antworten: die Messe. Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Messe. Sie werden antworten: die Wandlung. Sag hundert Katholiken, dass das Wichtigste in der Kirche und in ihrem Leben die Wandlung ist. Sie werden empört sein. Nein, alles soll bleiben, wie es ist!“ Nur was sich wandelt und verändert, kann reif werden und zur Fülle gelangen. Oder wie es Kardinal John Henry Newman einmal treffend formuliert hat: „Leben heißt, sich wandeln, und vollendet sein heißt, sich oft gewandelt zu haben.“
Liebe kennt kein Alter
Die Berufungsgeschichte, die Matthäus im Evangelium des morgigen Sonntags erzählt, lädt uns ein, wachsam durch das Leben zu gehen, damit wir nicht verpassen, wo und wann die Kraft und Anmut der Liebe uns selber anspricht und ins Abenteuer und Wagnis des Lebens ruft. Eines der berührendsten Beispiele dafür, dass die Liebe jeden Einzelnen von uns unablässig anspricht, habe ich bei meinem langjährigen Freund Othmar erlebt, der zwei Jahre nach dem Tod seiner über alles geliebten Gattin sich mit 92 Jahren – selber ganz überrascht – nochmals frisch verliebt hat; seine neue Lebenspartnerin ist kürzlich 90 geworden! Bei der Segensfeier dieses Lebensbundes waren wir alle zu Tränen gerührt.
Wie steht es mit unserer inneren Dynamik und Lebendigkeit, mit unserer Bereitschaft, uns vom Geheimnis und der Kraft der Liebe berühren und begeistern zu lassen und Neues zu wagen, zu entdecken, zu erfahren und zu lernen? Vergessen wir nicht, dass wir nie zu alt sind für eine Veränderung, höchstens zu gleichgültig und zu ängstlich. Denn die Liebe kennt kein Alter; sie will uns herausrufen ins Leben vom ersten bis zum letzten Atemzug.

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