Die Speise des Propheten

Seit Papst Franziskus unlängst einen „Wort-Gottes-Sonntag“ ausgerufen hat, feiern Katholiken und Protestanten – bei allen konfessionellen Unterschieden – gemeinsam, was sie fest verbindet: Die Bibel als Quelle des christlichen Glaubens.
Sie ist immerhin das am weitesten verbreitete Buch. Die ganze Bibel, oder Teile daraus, sind bereits in mehr als 3000 Sprachen und Dialekte übersetzt worden. Zwar verfügen viele Haushalte über eine Bibel, aber wirklich darin lesen tun die wenigsten. Meistens steht das Buch im Regal und wird nur einmal im Jahr hervorgeholt – zum Abstauben. Es ist ein Dilemma mit dem „Wort Gottes“! Offensichtlich mögen es nur noch wenige hören oder lesen.
Dabei gibt es berühmte Bibelleser. Karl Barth zum Beispiel. Er hat gesagt: Ich lese jeden Tag zum Frühstück die Tageszeitung und dann die Bibel. Ich will ja wissen, wofür ich zu beten habe. Gut, er ist Theologe und liest die Bibel „berufsbedingt“. Ein anderer, Bertolt Brecht, Schriftsteller und Theatermann, der nicht im Verdacht stand, im herkömmlichen Sinn fromm zu sein, kannte die Bibel sehr genau, was man seinen Werken auch anmerkt. An seinem Krankenlager, am Ende seines Lebens, soll er einem Freund, der ihm die neuesten literarischen Journale mitgebracht hatte, gesagt haben: Jetzt lese ich nur noch dieses – und zeigte auf die Bibel.
Süß wie Honig
Einen skurrilen Umgang mit einem heiligen Text hatte ein Mann, der eine Schriftrolle „verspeiste“. Sein Name: Ezechiel. Er war Priester im Tempel von Jerusalem. Sein Alltag wurde abrupt unterbrochen, als Nebukadnezar II., König von Babylonien, Krieg gegen Israel führte. Der Tempel wurde zerstört und die gebildete Oberschicht mit vielen andern nach Babylon entführt. Dort lebten sie als Fremde unter Fremden. Sie trafen sich an den Wassern von Babylon und sangen Sehnsuchtslieder aus ihrer alten Heimat. Eines Tages erhielt Ezechiel den Ruf zum Propheten. Seine Aufgabe war es nun, die Gefangenen zu trösten und stark zu machen für ihre Rückkehr – und sei das erst nach Generationen.
In der Sixtinischen Kapelle in Rom wird den Besuchern eine eindrucksvolle Szene vor Augen geführt. Ganz in der Art des großen Michelangelo ist der Prophet mit übergewichtigem Körper auf einem steinernen Thron dargestellt, und hält eine geöffnete Schriftrolle in der Hand. Ein Engel zeigt mit dem Finger zum Himmel – soll heißen: Das Wort, das du liest, stammt von Gott. Was Ezechiel dann damit gemacht hat, zeigt das Fresko nicht, aber im Buch, das seinen Namen trägt, ist zu lesen, dass er die Buchrolle – das Wort Gottes – gegessen habe und dass sie ihm geschmeckt habe. Süß sei sie gewesen, wie Honig! (Ezechiel 3,1-3)
Lust auf Gottes Wort
Im ersten Psalm der Bibel heißt es: „Wohl dem, … der Lust hat am Gesetz des Herrn und über seine Gebote nachsinnt Tag und Nacht!“ (Psalm 1,1-2). Im hebräischen Urtext steht für „darüber nachsinnen“ ein Ausdruck, den man auch mit „kauen“ übersetzen kann. Also lässt es sich auch so lesen: „Wohl dem, der Gottes Wort ‚kaut‘, der sich immer wieder darin verbeißt, um es schließlich in sich aufzunehmen“. In der lateinischen Übersetzung steht an dieser Stelle „meditare“.
Die merkwürdige Geschichte mit Ezechiel kann – im übertragenen Sinn – dazu anregen, der Bibel eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Sie lesen, in den Tag hineinnehmen – und sei es nur ein Vers daraus – und immer wieder hören, hineinhören, meditieren, und sich durch sie trösten und zurechtbringen lassen! Vielleicht auch über den Satz stolpern: „Es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ (5. Mose 30,14)
Dem Propheten hat Gottes Wort gemundet. Es war süß wie Honig. Was man sonst noch lesen kann im Buch Ezechiel ist eher herb und erregt Widerspruch. Es gibt ihn auch: Den bitteren Honig!
