Die verwundete Seele eines Mobbingopfers

Vorarlberg / 24.02.2020 • 15:00 Uhr / 6 Minuten Lesezeit
Marcel wurde wegen seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung gemobbt und zusammengeschlagen. <span class="copyright">Stiplovsek</span>
Marcel wurde wegen seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung gemobbt und zusammengeschlagen. Stiplovsek

Mit 13 bemerkte Marcel, dass er schwul ist. Er hatte damit kein Problem, die anderen schon.

Schwarzach Marcel (24) wuchs in einem 700-Seelendorf in Deutschland auf. Sein Vater war nicht oft zu Hause, weil er in Österreich arbeitete. Seine Mutter war ebenfalls voll berufstätig. Marcel war 13, als ihm klar wurde, dass er homosexuell ist. Der Teenager hatte mit seiner gleichgeschlechtlichen Orientierung kein Problem. „Das war in Ordnung für mich. Ich machte mir darüber keine Gedanken.“

Aber als seine Mitschüler merkten, dass er schwul ist, begann für Marcel der Terror. Wenn der Schüler nach der Schule nach Hause ging, passte ihn eine Gruppe von Burschen regelmäßig ab. „Sie spuckten mich an und traten auf mich ein“, erinnert sich Marcel mit Unbehagen an seine Peiniger. Es blieb nicht nur bei blauen Flecken. „Einmal verletzten sie mich derart, dass sich meine Rippen verschoben.“ Auch sein Fahrrad machten ihm die Jugendlichen kaputt. Wenn er ins Dorf ging, war Marcel auch nicht sicher. „Auch dort lauerten sie mir auf und schlugen auf mich ein.“

„Ich werde keine Kinder haben. Denn das, was ich erlebt habe, möchte ich meinen Kindern ersparen.“

Marcel, Mobbingopfer

Mit seinen Eltern wollte er nicht über die Gewalt, der er ausgesetzt war, und seine Seelenqualen reden. „Ich vertraute mich ihnen nicht an. Aber ich beschwerte mich beim Direktor. Der meinte nur, ich solle nicht so empfindlich sein.“ Marcel weinte viel in dieser Zeit. Er war ja nicht nur mit den Schwierigkeiten eines Heranwachsenden konfrontiert, sondern auch mit extremem Mobbing. Damals schwor er sich: „Ich werde keine Kinder haben. Denn das, was ich erlebt habe, möchte ich meinen Kindern ersparen.“

Er verlagerte seinen Fokus auf die Karriere. Doch auch da lief es zunächst nicht rund, weil die schmerzhafte Vergangenheit ihn immer wieder einholte und er manchmal psychisch instabil und körperlich angeschlagen war. Im Jahr 2010 zog Marcel aus dem Dorf weg, das ihm so viel Ungemach bereitet hatte und zu seinem Vater „ins offenere Vorarlberg“. Hier schloss er die polytechnische Schule ab. Beruflich sah sich der junge Mann im Büro. „Aber ich hätte mir auch vorstellen können, mit Kindern zu arbeiten.“ Marcel suchte vergeblich nach einer Lehrstelle. „Im Zeugnis hatte ich zwar in den kaufmännischen Fächern gute Noten. Aber keiner wollte jemanden aus der dritten Leistungsgruppe aufnehmen.“ Als Alternative begann er eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann, brach diese aber nach vier Monaten ab, „weil ich merkte, dass es nicht das Richtige für mich war“.  Danach besuchte er in Lindau die Berufsfachschule für Kinderpflege. Aber bereits nach einem halben Jahr verließ er die Schule. „Zwei Klassenkameradinnen aus dem Bregenzerwald beschimpften mich wegen meiner Homosexualität.“ Erneut Mobbingopfer zu sein – das verkraftete Marcel nicht. Deshalb strich er – mit Bedauern – die Segel.

Zwei Jahre arbeitslos

Sein beruflicher Weg führte ihn weiter in ein Möbelhaus. „Dort saß ich als Lehrling den ganzen Tag an der Kassa. Ich war überlastet, die Verantwortung war mir zu groß.“ Danach arbeitete er ein Jahr lang als Praktikant im Büro einer Metallfirma. „Das taugte mir. Ich war für die Digitalisierung zuständig und habe ein neues Programm aufgebaut.“ Hier erlebte Marcel zum ersten Mal, dass seine Arbeit wertgeschätzt wurde. Das tat seinem Selbstbewusstsein gut. „Ich hätte in dieser Firma als CNC-Fräser bleiben können. Doch ich bin kein Handwerker.“ Und wieder begab sich der junge Mann auf Arbeitssuche. „Ich habe viele Bewerbungen versandt. Aber immer hieß es: ‚Wir haben jemanden mit besseren Qualifikationen.‘“ Den Mut verlor Marcel trotzdem nicht. Er dachte sich: „Wenn ich den Job nicht bekomme, dann ist es nicht der Richtige für mich.“ Zwei Jahre war Marcel ohne Arbeit. Dann schickte ihn das AMS zu Carla-Logistik, einer Einrichtung der Caritas, die Menschen auf Jobsuche einen befristeten Arbeitsplatz anbietet. Dort bekam er eine einjährige Anstellung im Bereich Backoffice, damit er fehlende Praxismonate für die außerordentliche Lehrabschlussprüfung „Bürokaufmann“ erwerben konnte. Zunächst war die 40-Stunden-Arbeitswoche eine Herausforderung für ihn, aber nach Anfangsschwierigkeiten meisterte er diese gut. Im November 2019 bestand Marcel die Lehrabschlussprüfung „Bürokaufmann“ mit gutem Erfolg. Marcel war „endlich am Ziel“.

Derzeit ist der 24-Jährige auf Arbeitssuche. „Ich weiß, was ich kann und bin überzeugt, dass ich meinen Platz finden werde“, sprüht er vor Optimismus. Sein neues Selbstbewusstsein hat sich auch in seinem Aussehen niedergeschlagen. „Ich habe 22 Kilo abgenommen.“ Als sich auch noch jene Menschen, die ihn einst zusammenschlugen, bei ihm entschuldigten, war das wie Balsam für seine verwundete Seele. Wohl tut ihm auch die Unterstützung seiner Eltern, die immer zu ihm gehalten haben. Mit 16 outete er sich bei ihnen als homosexuell. Die Reaktion seiner Mutter vergisst er nicht mehr. „Sie sagte: ‚Ich hab’s doch gewusst. Jetzt trinke ich erst mal einen Schnaps.‘“         

Du hast einen Tipp für die VN Redaktion? Schicke uns jetzt Hinweise und Bilder an redaktion@vn.at.