Psychiater Haller zu Corona: „Nicht nur auf das Bedrohliche blicken“

Psychiater Reinhard Haller im digitalen VN-Stammtisch zu brennenden Fragen rund um die Coronakrise.
Schwarzach Die Coronakrise beschert vielen Menschen eine Ausnahmesituation. Psychische Belastungen und nicht gekannte Herausforderungen lösen vielfach Ängste aus. Vor diesem Hintergrund stellte sich Psychiater Reinhard Haller im Gespräch mit VN-Chefredakteur Gerold Riedmann den Fragen über das Leben in der Krise. Interessierte Zuseher beteiligten sich aktiv am Gespräch, das über VN.at live übertragen wurde.
Herr Haller, es gibt Ängste bei vielen Menschen. Was passiert in unseren Köpfen?
Es ist das erste Mal, dass unsere Generationen mit so etwas konfrontiert sind. Alle unsere Vorfahren haben Kriege, Seuchen und Verwüstungen alle 20 oder 30 Jahre einmal mitgemacht und sind vor dem Nichts gestanden. Dass dies auch Ängste auslöst, ist verständlich. Es gibt uns aber auch Gelegenheit, eine Erfahrung zu machen. So zynisch das vielleicht auch klingen mag: Das Ganze hat auch gewisse gute Seiten. Eine Krise ist immer eine Weggabelung, das heißt, der Weg geht nicht mehr so weiter wie bisher. Er geht nach rechts oder links. Entweder in den Abgrund oder in die Heilung, aus der man dann auch gestärkt hervorgeht. Es ist glaube ich wichtig, dass man in einer solchen Situation nicht nur auf die bedrohlichen Dinge blickt, sondern vor allem auch auf die positiven. Ich würde im Hinblick auf die Situation also sagen: Höchste Vorsicht, ja, unnötige Angst, nein.
Welche Gefahren birgt das Einigeln, wenn man aus Angst das Haus nicht mehr verlässt?
Es ist ein soziales Geschehen, das mit uns allen passiert. Es spielt sich irgendwo ab zwischen hurra, endlich schulfrei und Fußfessel, der modernen Form der Bestrafung. Zu Beginn sind die positiven Effekte dominant. So mancher denkt sich: Endlich kommen wir mal aus dem Stress heraus, in dem wir sonst das ganze Leben über drinnen stecken. Nach zehn Tagen dreht es sich langsam, dann treten Effekte wie das Gefühl der Vereinsamung in den Vordergrund. Dann werden freilich psychische Probleme dominant. Auch die Lebensfreude kann sinken. Aus diesem Grund ist es wichtig, möglichst viele Konakte, die wir dank neuer Medien haben, trotz allem aufrecht zu erhalten.
Wie soll man damit umgehen, wenn einem die Decke auf den Kopf zu fallen droht?
Gedanken sind frei, daran sollten wir uns halten. Wir mögen zwar körperlich eingesperrt sein, aber gedanklich sind wir frei. Man sollte sich auf eine Wanderung begeben in das weite Land der Seele. Darüber hinaus sollten auch die großen Angebote der digitalen Medien genutzt werden. Dazu möchte ich auch die ältere Generation ermuntern. Schlussendlich kann Einsamkeit auch etwas Förderliches sein.
Was macht diese Krise mit Selbstständigen und Firmen, die vor existenziellen Sorgen stehen?
Mit diesen Menschen habe ich tiefes Mitgefühl. Auch zum Beispiel mit Kulturschaffenden und Künstlern. Das ist eine große Gruppe, die neben den Genannten hart getroffen wird. Der einzige Trost, den man hier geben kann, ist folgender: Es trifft nicht uns allein. Die Krise ist global. Außerdem ist sie etwas, das zeitlich begrenzt ist.
Denken Sie, dass Menschen vermehrt zu Drogen greifen?
Ich bin sicher, dass das so sein wird. Obwohl ich immer Suchttherapeut war, muss ich sagen, dass man dem Thema pragmatisch gegenübertreten soll. Es ist wichtig, dass Menschen in dieser Zeit manchmal Alkohol oder vielleicht auch andere Suchtmittel so nutzen, dass es ihnen nicht schadet. Dass jemand ein Glas Wein oder zwei, drei Bier trinkt, kann ich gut nachvollziehen.
Soziale Kontakte sind vor allem bei Singles bei Null. Wie schafft man es trotzdem durch die Krise?
Ich glaube, es ist schon ein wichtiger Schritt, dass einem das überhaupt bewusst wird. Man sollte die digitalen Möglichkeiten nutzen und dazu zählt für mich besonders, dass man alte Bekanntschaften und ebenso alte Freundschaften wieder aktiviert.