Europa und das Virus
Es wird viel davon gesprochen, was wir alles lernen, im Zeichen von Corona. Abstand zu halten, aus Solidarität miteinander. „Vermummung“ als Teil unserer Kultur, und nicht als verbotene Fremdheit. Masken zu tragen, nicht um sich selbst zu schützen, sondern aus Verantwortung für andere. Bekenntnisse zum Schulden-Machen – und das von Wirtschaftsliberalen. Extraflüge für die noch vor einem Jahr als Sozialschmarotzer beschimpften ausländischen Arbeitskräfte, ohne die weder Pflege noch Ernte in Österreich denkbar sind. Ja und wir nehmen sogar zur Kenntnis, dass die EU schon Ende Jänner den Mitgliedsstaaten angeboten hat, ihnen bei der Beschaffung von Schutzausrüstung zu helfen. Nö, wir kommen alleine klar, war die Antwort.
„Oder eine Demokratie, in der gemeinsame Interessen auch gemeinsame Entscheidungen verlangen?“
Fast alle Minister können mittlerweile sogar aussprechen, dass mit „wir“ alle in Österreich lebenden Menschen gemeint sind. Nur der Kanzler schafft das noch nicht.
Sobald er alleine Interviews gibt, kann es eigenwillig werden. Da erklärt er der „Bild“-Zeitung, es wäre Israels Ministerpräsident Netanjahu gewesen, der ihn wachgerüttelt hätte. Gemeint war eine Videokonferenz mit verschiedenen europäischen Staatschefs am 9. März, an dem Tag, an dem Italien den Ausnahmezustand auf das ganze Land ausdehnte. Aber zuzugeben, dass man sich von den Italienern hätte aufwecken lassen, das ginge zu weit. Erst müsste man die Wahrheit sagen, und am Ende kämen Coronabonds. Ein paar Tage später droht er in der „Kronen Zeitung“ eine kritische Diskussion über die EU an, weil ein Lastwagen mit Hilfslieferungen an der deutschen Grenze festgesessen hätte. Von der EU dort festgehalten? Am 10. März hatten die EU-Regierungschefs immerhin gemeinsam beschlossen, nationale Maßnahmen miteinander abzustimmen. Um einen Tag danach von der österreichischen Schließung der Brennergrenze ohne Vorwarnung überrascht zu werden.
Nun sind wir in Phase 2, und müssen uns langsam auf das einstellen, was der Kanzler „neue Normalität“ nennt. Das heißt auch, wir müssen uns Gedanken darüber machen, was WIR für eine EU wollen. Einen zahnlosen Tiger ohne Kompetenzen, der dabei zuschauen muss, wie jeder macht, was er will, nur um dann als Sündenbock zu dienen? Eine Versammlung von nationalen Häuptlingen, die nur versuchen, sich die Probleme gegenseitig zuzuschieben? Oder eine Demokratie, in der gemeinsame Interessen auch gemeinsame Entscheidungen verlangen? Mit Knauserei beim EU-Budget und der wohlfeilen Schelte auf die „Brüsseler Bürokraten“ wird das nächste Virus Europa so unvorbereitet treffen wie das jetzige.
Hanno Loewy ist Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems.
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