Abstand
„Der kommt mir gerade recht, der Abstand“, sagte ein Mann, den ich vom Sehen kenne. Er begegnete mir auf meinem Spaziergang, und ich wich ihm aus, stand am Rand der Kehre und nickte nur, als er an mir vorüber ging. Da sagte er diesen Satz, und ich wunderte mich, warum er nicht einfach nur weiterging, das mit dem Abstandhalten ist doch nicht neu. Er drehte sich sogar um. „Das finden Sie doch auch“, redete er weiter, im Befehlston. Meint er das jetzt ironisch, dachte ich mir, weil ich es ja war, der den Abstand vorgegeben hatte und nicht er. „Man könnte sich ja anstecken, und nicht nur am Corona“, sagte er noch. Also ironisch. Und doch vorwurfsvoll.
Ich sagte nichts.
Er weiter: „Sie halten doch auch nichts vom Umarmen und Abküssen?“
Ich schaute ihn nur an. Dann setzte ich meinen Weg fort.
Alles Mögliche ging mir durch den Kopf. Wie führt man ein Gespräch auf Abstand? Antworten sollte man immer, auch wenn man den Menschen nicht kennt, das erfordert die Höflichkeit. Ich war also unhöflich.
Das Leben nimmt seinen normalen Gang, die Geschäfte öffnen, endlich können wieder lebensunnötige Dinge gekauft werden, Haare können wieder ordentlich geschnitten werden. Bei mir ändert sich wenig. Nach wie vor sitze ich am Computer und versuche, an meinem neuen Roman zu schreiben. Muss mir einen guten Titel einfallen lassen. Die Katze miaut zu meinen Füßen, ich weiß nicht, warum sie heute so unzufrieden ist, sie hat schon gefressen. Jetzt reißt sie am Vorhang, sie weiß, dass ich das nicht mag. Sie kann mich vorwurfsvoll anschauen, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich nehme sie auf den Schoß und streichle ihr über das weiche Fell, das aber gefällt ihr auch nicht. Sie ist launisch wie ich. Oder bin ich launisch wie sie? Es regnet. Lange haben wir auf den Regen gewartet. Die Risse im Boden müssen aufgefüllt werden. Es wird auch morgen regnen. Mein Mann kocht das Mittagessen. Ich weiß nicht, was er kochen wird, aber ich freue mich darauf. Ich werde die Kinder anrufen, die Söhne, die Tochter. Sie könnten uns besuchen, jetzt, da es wieder erlaubt ist. Wir könnten uns gemeinsam um den Tisch versammeln, jeder könnte von sich erzählen, wie es vorangeht mit der Malerei, mit den Statistiken, mit der Wochenplanung.
Die Katze würde sich an die Kinder heranschmeicheln.
Wir könnten Karten spielen, sagt mein Mann, habt ihr Lust? Wir sind im Kartenspielen keine Profis, uns macht es nichts aus zu verlieren. Wir spielen nicht um Geld. Sollen wir überhaupt spielen? Macht doch Musik, sage ich, holt die Gitarren, spielt Lieder, zu denen wir singen können. Musik tröstet. Endlich wieder Schönheit!
„Wir sind im Kartenspielen keine Profis, uns macht es nichts aus zu verlieren.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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