Wanderarbeit
Umso länger uns die Coronapandemie beschäftigt, umso öfter werden wir auf ein paar unbequeme Erkenntnisse gestoßen. Unsere europäischen Gesellschaften leben von Migration – noch sehr viel mehr, als wir es uns bisher überhaupt vorstellen konnten. Und auch ganz anders, als wir uns das als Freunde von Weltoffenheit und Multikulturalismus vorstellen wollen.
Im Schatten unserer erfolgreichen Ökonomie leben nicht nur schlecht behandelte und von Ausweisung bedrohte „Illegale“, sondern vor allem jene, die in den Nischen unserer „Legalität“ täglich die Jobs erledigen, die „wir“ schon längst nicht mehr machen wollen – oder können. Natürlich wissen wir das. Wir wissen von Pflegerinnen, die zwischen Rumänien und Österreich hin und her pendeln, um sich 24 Stunden um Alte zu kümmern. Von Erntehelfern, die als Saisonarbeiter ins Land kommen. Von Leiharbeitern auf Baustellen, ohne die in vielen Branchen gar nichts mehr geht. Darüber haben wir uns ja – aus ziemlich unterschiedlichen Gründen – schon aufgeregt, entweder über die „billige Konkurrenz“ oder darüber, wie mies man diese Menschen so oft behandelt.
Aber jetzt plötzlich sind ihre Wohnheime und Arbeitsplätze „Hot spots“ und „Cluster“, Ansteckungsorte, eine „Gefahr“ für die Gesellschaft. Jetzt plötzlich nehmen wir zur Kenntnis: Ohne diese Arbeitskräfte würde kein Großbetrieb, der Wurstwaren herstellt, mehr existieren können. Ohne die osteuropäischen Frauen würde es keine Pflege in Österreich geben. Ohne die Ausbeutung von Wanderarbeitern würde der Spargel im Marchfeld in der Erde stecken bleiben und verrotten. Ohne Hunderttausende von legalen, halblegalen und „illegalen“ Arbeitern aus Nordafrika würden die Erdbeeren in Spanien und das Gemüse in Italien in der Sonne vertrocknen.
Die eilig herbeigerufenen einheimischen Erntehelfer wurden, offenbar überfordert, schon bald nach Hause geschickt. Und in Italien macht man sich Gedanken darüber, wie man Tausende illegal im Land lebende Flüchtlinge vielleicht doch lieber aus dem Untergrund holt, statt sie zu vertreiben. Arbeiten tun sie schon jetzt. Nur redet man nicht darüber. Und auf das billige Fleisch aus Fabriken verzichten? Man kann sich mit biologischen Vorzeigeprodukten schmücken, doch die Masse ernährt sich anders. Und damit sie das kann, leben Wanderarbeiter in Wohnheimen unter Bedingungen, die wir erst dann skandalös finden, wenn es ausnahmsweise auch uns betrifft.
„Ohne diese Arbeitskräfte würde kein Großbetrieb, der Wurstwaren herstellt, mehr existieren können.“
Hanno Loewy
hanno.loewy@vn.at
Hanno Loewy ist Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems.
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