Über die europäische Lotterie der Reisewarnungen

Wie die Länder entscheiden, ist unterschiedlich und scheint undurchsichtig und willkürlich.
Schwarzach Überhastete Abreisen, Urlaubsstornierungen und Zittern um die Wintersaison: Die Corona-Reisewarnungen aus dem Ausland für österreichische Regionen stürzen den Tourismus in die Krise. Wie die Reisewarnungen vergeben werden, ist oft undurchsichtung und folgt keiner klaren Logik. Deutschland will ab 15. Oktober noch einen Schritt weitergehen.
Dann gilt nämlich eine zwingende Onlineregistrierungspflicht bei der Einreise aus den als Risikogebieten eingestuften Ländern Vorarlberg, Tirol und Wien nach Deutschland. Doch es droht weiteres Ungemach: So wird auch überlegt, dass eine Einreise nach nur nach fünftägiger Quarantäne möglich sei, ohne vorherige Freitestung. „Eine derartige Regelung ist lediglich in Vorbereitung. Ob und wann sie kommt, ist noch nicht entschieden“, sagt der Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Tirol, Dietmar Czernich.
Angesichts der wachsenden Liste an österreichischen Covid-Risikogebieten entzündet sich zunehmend eine Diskussion über die Zahlen, die der Entscheidung zugrunde liegen. In Deutschland wird das allerdings leidenschaftslos gesehen. Die Reisewarnungen sind weder eine späte Revanche für die Ischgl-Affäre noch ein Beitrag zum Wiener Wahlkampf, sondern eine ganz nüchterne Angelegenheit, wie in deutschen Regierungskreisen versichert wird.
Der wichtigste Maßstab ist die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz. Konkret: Übersteigt eine Region den Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner kumuliert auf sieben Tage, droht sie auf der roten Liste des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu landen. Allerdings nicht sofort. Man handhabe das sehr vorsichtig, heißt es. Der Trend müsse sich über einige Zeit – die Rede ist von sieben bis zehn Tagen – bestätigen. Im Blick haben die Deutschen dabei zunächst die Bundesländer. Das erklärt auch, warum Vorarlberg gelistet wurde, als in Innsbruck die 7-Tage-Inzidenz deutlich höher war.
In Österreich wird hingegen auf den Sieben-Tages-Schnitt bei den täglichen Neuinfektionen abgestellt.
Die Entscheidung trifft in Deutschland ein Krisenstab mit Vertretern von Gesundheits-, Außen- und Innenministerium. Im Blick haben die Deutschen dabei zunächst die Bundesländer. Das erklärt auch, warum Vorarlberg gelistet wurde, als in Innsbruck die Sieben-Tage-Inzidenz deutlich höher war.
Doch schon hier kommt es zu ersten Unstimmigkeiten. Faktoren wie Testungsquote, Erkrankte in den Spitälern und Patienten auf den Intensivstationen werden außer Acht gelassen. Wie viele Urlaubsgäste sich derzeit in einer Region aufhalten, also der Einwohnergleichwert, ist ebenfalls nicht Teil der Berechnung von den Corona-Fallzahlen pro 100.000 Einwohner. Weder von der heimischen Ampelkommission noch vom deutschen RKI.

Tirol hat aktuell 758.000 Einwohner, der Einwohnergleichwert im Sommer wird wegen der Touristen jedoch mit 876.000 Einwohnern beziffert. Für den in der Vorwoche auf Orange gestellten Tourismusbezirk Landeck (43.300 Einwohner) beträgt dieser Wert im Sommer 58.800 und im Winter 78.400. Er ist also doppelt so hoch als die Bevölkerungszahl.
Andererseits zielen Reisewarnungen darauf ab, dass Urlaubsrückkehrer das Virus nicht in ihr Heimatland einschleppen. Wie viele Touristen sich in Österreich mit Corona infizieren, weiß niemand genau. Im Gesundheitsministerium heißt es dazu: „Fälle, die sich in Österreich angesteckt haben und erst im Ausland positiv getestet werden, scheinen nicht in unserer Statistik auf. Wir halten nur reiseassoziierte Cluster mit einem Infektionsimport nach Österreich fest.“
Doch ein Rundruf in den Bundesländern ergibt ein eindeutiges Bild: Seit Juni dürften sich nicht mehr als 100 Touristen in Österreich angesteckt haben. In Tirol wurde es genau herausgefiltert, inklusive der deutschen Boxnationalmannschaft mit 26 Infizierten sind es rund 60. In Vorarlberg wird ein positiv getesteter Tourist ausgewiesen, in Salzburg und Oberösterreich dürften es ebenfalls nur eine Handvoll sein. Nicht einmal im Cluster von St. Wolfgang Anfang August mit 107 Fällen hätte es einen infizierten Urlauber gegeben, teilt das Land Oberösterreich auf Anfrage mit.
Auch in Vorarlberg war der Schock groß, als Deutschland das Bundesland auf die rote Liste setzte. Nicht nur, weil über die Hälfte aller Touristen aus Deutschland stammen, sondern vor allem wegen des kleinen Grenzverkehrs. Im März, April und Mai zeigt sich, dass die Grenze eben nicht nur auf dem Papier existiert: Lange Staus, kein Durchkommen zu Freunden und Familien auf der anderen Seite. Besonders hart getroffen hat es das Kleinwalsertal. Es gehört zwar zu Vorarlberg, ist aber nur von Deutschland aus erreichbar. Damals waren es Österreichische Regeln, die das Tal abgeschnitten haben. Es dauerte etwas, aber die Bundesregierung beschloss schließlich eine Ausnahme. Nun sind es die Deutschen, die dafür sorgen, dass die 6500 Bewohner de facto wieder eingesperrt sind. Aus dem Landhaus erfährt man zwar, dass die Bayern beschwichtigen: Sie würden eh nicht kontrollieren. Außerdem gibt es viele Ausnahmen. Aber die Reisewarnung treffe die Menschen dennoch hart, sagt der Bürgermeister Andreas Haid. Zumal es keine aktiv positiven Fälle gibt.
Wer die Reisewarnungslotterie in seiner vollen Ausprägung betrachten möchte, muss von Vorarlberg Richtung Westen blicken. Die Schweiz verhängte gegen Niederösterreich, Oberösterreich und Wien eine Reisewarnung. Wer von dort einreist, muss zehn Tage in Quarantäne. Länder, in denen sich in 14 Tagen durchschnittlich 60 oder mehr Menschen pro 100.000 Einwohner anstecken, landen auf dieser Liste. Vorarlberg findet sich nicht drauf.
Das liegt nicht an den Zahlen, sondern an der Lage. Eine Verordnung des Schweizer Bundesrats vom 11. September 2020 macht es möglich: „Gebiete an der Grenze zur Schweiz, mit denen ein enger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Austausch stattfindet, können von der Aufnahme in die ausgenommen werden, auch wenn sie eine der Voraussetzungen erfüllen.“ Vorarlberg wurde ausgenommen, es dürfte also auch zukünftig keine Reisewarnung geben. In der Vorarlberger Landesregierung ist man überzeugt: Das sind die Lehren der ersten Grenzschließungen.
Die Einreise bleibt auch der feiernden Jugend unverwehrt. In Vorarlberg gilt seit kurzem eine Sperrstunde ab 22 Uhr. Im Kanton St. Gallen darf hingegen weitergefeiert werden. Seit einer Woche müssen Disko- und Barbesucher ihre Kontaktdaten angeben. Im Kanton St. Gallen liegt die Sieben-Tage- Inzidenz pro 100.000 Einwohner derzeit bei zwölf.
Die Schweiz hat statt Vorarlberg aber Niederösterreich und Oberösterreich auf die rote Liste gesetzt. Als die Schweiz das entschieden hat, lag die 14-Tages-Fallzahl pro 100 Einwohnern für Oberösterreich bei 65,18, in Niederösterreich bei 90,16, in Wien bei 206,52, in Tirol bei 108,97 und in Vorarlberg bei 121,09 (Österreichschnitt 99,46).
Beim Land Niederösterreich heißt es zu möglichen Infektionen von Touristen: „Es kann hier keine konkrete Zahl genannt werden, weil diejenigen Personen, die sich im Rahmen eines Urlaubs in Niederösterreich infizieren, in aller Regel erst ein paar Tage später in ihrer Heimat als bestätigte Fälle erkannt werden.“ Einzige Ausnahme sei eben eine Gruppe von acht Schweizern, „die sich in Niederösterreich angesteckt haben und die von sich aus eine diesbezügliche Rückmeldung an ihre österreichischen Freunde und den Quartiergeber gegeben haben.“
Aus dem Ausland sei jedenfalls keine wissentliche weitere Meldung in Niederösterreich eingelangt. „Insofern kann man also von einer eher verschwindenden Anzahl – zumindest in Niederösterreich – sprechen“, wird versichert.
Aus der Steiermark und aus Wien gibt es ähnliche Meldungen, es wird nur von wenigen infizierten Gästen berichtet. Ute Hödl von Steiermark Tourismus verweist auf die Bemühungen in den Beherbergungsbetrieben und in der Gastronomie. „Die Sicherheitsmaßnahmen sind umfassend, es gab nur vereinzelt Infektionen von Mitarbeitern. Rückmeldungen, dass Gäste betroffen waren, hatten wir nicht.“ Sie spricht von einer sehr schwierigen Situation im Tourismus, vor allem die Reisewarnungen seien kritisch zu hinterfragen.
Doch das Trauma „Ischgl“ wirkt auch hier noch nach. Im April hat das Robert-Koch-Institut für 9526 Covid-19-Fälle den Ursprung in Österreich ausgemacht. 3719 Fälle entfielen auf Tirol, 428 auf ein anderes österreichisches Bundesland, 5049 Fälle gaben kein Bundesland an.
Seither hat sich natürlich auch in Österreich vieles geändert. So wird eben gezielt im Tourismus getestet. Österreichweit gab es mit Stand 30. September 263.062 Testungen in 4598 Betrieben. Die meisten mit Abstand in Tirol (75360), die wenigsten im Burgenland mit 10759. Die anfangs von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger angekündigte Zahl von 65.000 Testungen pro Woche wurde aber bei Weitem verfehlt. Insgesamt machten im Juli und August 8,55 Millionen Gäste Urlaub in Österreich, 33,4 Millionen Übernachtungen wurden gezählt. 3,1 Millionen Touristen kamen aus Deutschland.
Ein Blick hinter die Zahlen verrät jedoch, dass Kärnten in Vergleich zu Tirol viel weniger testet: 232.500 Tests wurden in Tirol bisher durchgeführt, in Kärnten waren es im selben Zeitraum rund 78.0000.
Die Reisewarnungen führen aber auch innerhalb der Bundesländer zu Diskussionen. „Willkürlich und unverhältnismäßig“ – so bezeichnet die Lienzer Bürgermeisterin Elisabeth Blanik den Umgang mit dem fast virenfreien Osttirol. „Ich kenne keinen, der hier Verständnis dafür hat, dass Osttirol gleich behandelt wird wie orange Bezirke.“ Die Unzufriedenheit der Bevölkerung werde größer. „Ist das der Dank dafür, dass wir hier in Osttirol alle so diszipliniert gewesen sind?“, fragt sich Blanik.
Ähnlich argumentiert die Tiroler Europaparlamentarierin Barbara Thaler: „Es dürfen nicht wegen einzelner Corona-Hotspots ganze Staaten oder Bundesländer als Risikogebiet eingestuft werden. Osttirol weist als flächenmäßig größter Bezirk Österreichs nur sieben aktiv-positive Fälle auf. Dennoch ist der Bezirk Lienz genauso von Reisewarnungen betroffen wie die Landeshauptstadt Innsbruck mit 132 Fällen.“
Fest steht jedoch, dass es auf europäische Ebene wohl so schnell keine Einigung auf ein gemeinsames Reisewarnungs-System geben wird. Auch wenn es am besten wäre, es gäbe für die gesamte EU ein einheitliches Vorgehen. Nach dem Motto: Sobald gewisse, objektive Kriterien erfüllt sind, springt die Ampel für ein Land oder eine Region auf Rot, sobald sich die Lage wieder bessert schaltet sie zurück auf Grün oder Orange; Ende der Debatte.
Genauso ein System hat die EU-Kommission auch in allen Details vorgeschlagen. Gesteuert würde die EU-weite Ampel von Stockholm aus, wo das Europäische Zentrum für Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) seinen Sitz hat und über das nötige Knowhow verfügt.
Aber was so einfach klingt, scheitert an den Nationalstaaten. Kein Land aus dem Kreis der 27 will die Entscheidung darüber abgeben, ab wann es eine Reisewarnung ausspricht. Aber immerhin will man sich besser koordinieren. Das letzte Mal berieten die Europaminister am Dienstag vergangener Woche darüber. In einem ersten Schritt sollen zumindest die Einreiseformulare, die Quarantänedauer und die Anerkennung der Tests harmonisiert werden.
Als einzige Region Mitteleuropas leuchtet Kärnten derzeit in einer Europakarte des belgischen Außenministeriums zur Gefahreneinschätzung für Reisende grün – inmitten eines gelb-orange-rot gefärbten Mosaiks. Was also hat Kärnten in der Coronakrise bisher richtig gemacht? Von Mai bis August wurden im südlichsten Bundesland 6,8 Millionen Übernachtungen gezählt, Ende Juli hat sich in Velden eine Urlauberin dort angesteckt. Außerdem wurde nach „Massenaufläufen“ gleich zu Beginn eine Maskenpflicht ab 21 Uhr verhängt.
Zweifellos funktioniert das Contact Tracing bisher vergleichsweise klaglos: „Das Nachverfolgen von Kontaktpersonen ist der Dreh- und Angelpunkt eines erfolgreichen Kampfes gegen Corona“, sagt Gesundheitsreferentin Beate Prettner (SPÖ). Der Test von Verdachtsfällen und Kontaktpersonen erfolgt in Kärnten im bundesweiten Vergleich unüblich schnell – im Normallfall werde spätestens am Folgetag getestet und innerhalb eines, maximal zwei Tagen danach liegt das Testergebnis vor. „Damit steigen auch unsere Möglichkeiten, das Virus einzudämmen“, sagt Prettner, eine ausgebildete Ärztin.
Auch das nötige Quäntchen Glück spielt im Umgang mit dem Virus eine gewichtige Rolle. Dass während der Hochsaison im Sommer an den Kärntner Seen Cluster wie am Wolfgangsee ausblieben, ist der beste Beleg dafür. Angesichts der Touristenmassen kam das für viele unerwartet. Diese Glückssträhne endete jäh am Wochenende ausgerechnet im Gailtal, das ein halbes Jahr lang coronafrei war. Ein Almabtrieb entfachte im Bezirk Hermagor einen Cluster beachtlichen Umfangs.
Das Recherche-Team der Bundesländerzeitungen: Uwe Sommersguter (Kleine Zeitung), Jürgen Streihammer (Presse), Peter Nindler, Benedikt Mair (falls jemand Weiss nimmt) (TT), Marian Smetana (SN), Alexander Zens (OÖN), Sylvia Wörgetter (SN und ÖON), Michael Prock (VN)
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