Von der Wut, die gerne Zorn hieße
Wutbürger, Wutlehrerin, Wutwirt – wir kennen diese holzschnittartigen Boulevard-Bezeichnungen, sobald sich jemand zu ihrem, seinem Thema öffentlich lautstark äußert. Das Leben mit der Pandemie, die Belastungen in Beruf und Privatleben, das Krisenmanagement machen jetzt allerdings besonders viele Menschen besonders wütend. Es ist eine reine, leicht entflammbare Wut, die manchmal recht schnell ins Destruktive kippen kann. Diese Emotionen prägen heute oft das Wesen des Protests, mag der Ursprung der Aufregung auch noch so nachvollziehbar sein.
Manche Wütenden verwechseln ihre Wut gerne mit dem Bild des „heiligen Zorns“, der ja für eine höhere Sache brennt, der das Unrecht benennt, für Gerechtigkeit auf Erden kämpft. Ein Bild, das sich aus der Bibel speist und im Alten Testament – Gott zürnt da regelmäßig – aber auch im Neuen Testament vorkommt. Ja selbst Jesus soll demnach die Contenance verloren haben, zum Beispiel, als er die Händler aus dem Tempel in Jerusalem vertreibt. In der heutigen Welt findet man die Wut, die lieber als heiliger Zorn wahrgenommen werden würde, mittlerweile schon in diversen Interessenkonflikten.
Dauer-Aufregung
Bürgerinnen und Bürger, die auf die Politik wegen ihres Krisenmanagements wütend sind; Politikerinnen und Politiker, die sich über die überschaubar ausgeprägte Eigenverantwortung (Eigenverantwortung, das Wort des Pandemie-Jahres) von Teilen des Volkes ärgern. Lehrkräfte, die sich über Eltern aufregen, die Distance Learning als Zumutung ablehnen und sich offenbar weniger Gedanken über die Nöte der Unterrichtenden machen; Eltern, die sich wegen der Mehrfachbelastung von Unterricht daheim, Job und Hausarbeit – das trifft natürlich vor allem Frauen – über die Lockdown-Maßnahmen empören. Ältere, die sich über Junge mit ihrem Party- und Einkaufsverhalten echauffieren; Junge, die sich über Einschränkungen fast aller Freizeit-, Entwicklungsmöglichkeiten und jener Leichtigkeit aufregen, die das Jungsein auch ausmachen. Alte Menschen, die sich ohnmächtig wütend von anderen bevormundet und an den Rand gedrängt fühlen; jüngere Menschen, die nicht damit klarkommen, dass man wegen der gesellschaftlichen Verantwortung für die sogenannten „Risiko-Gruppen“ eben noch achtsamer sein sollte.
Die Liste der Konfliktfelder wäre leider unendlich fortsetzbar. Dabei haben alle Anliegen ihre Berechtigung, viele sind nachvollziehbar, wenn man sich ernsthaft in die Situation der anderen zu versetzen versuchte. Das wäre allerdings anstrengender als nur die Irritation über die eigenen Probleme rauszulassen – also leben wir jetzt in einer von Wut vergifteten Gesellschaft. Und das wohl noch ziemlich lange.
„Manche Wütenden verwechseln ihre Wut gerne mit dem Bild des ‚heiligen Zorns‘, der ja für eine höhere Sache brennt.“
Julia Ortner
julia.ortner@vn.at
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln und lebt in Wien. Podcast: @ganzoffengesagt
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