Klares Demokratieverständnis
„Es sollte niemand so tun, als könnte man in einem Land vulnerable Gruppen schützen, indem man die einfach irgendwie aus dem öffentlichen Bereich herausnimmt. Das wird bei uns nicht gehen und ich halte das auch nicht für ethisch vertretbar, um es ganz klar gesagt zu haben.“ Mit diesen bemerkenswerten Worten vor dem Bundestag zeigte Angela Merkel vergangenen Donnerstag Haltung. Es wäre wünschenswert, derart klare Aussagen und demokratisches Grundverständnis in allen Ländern und Parteien zu hören.
Denn die deutsche Bundeskanzlerin verweigert sich damit jenen Stimmen, die eine rasche Rückkehr zum normalen Leben für einen Großteil der Bevölkerung vorschlagen. Bedingung dafür wäre tatsächlich ein Ausschluss von Risikogruppen von diesem neuen Alltag. Wobei das Wort „vulnerabel“ übersetzt eigentlich verletzlich bedeutet und das Absondern von bestimmten Personen gern mit dem Begriff „Schutz“ begründet wird. Merkel hat recht, wenn sie nicht für ethisch vertretbar hält, was andere gerne als Schutzmaßnahmen verkaufen. Insbesondere weil es sich um keine kleine Minderheit handelt. So bezifferte das deutsche Gesundheitsministerium diese Gruppe auf 27 Millionen Menschen, also rund ein Drittel der Bevölkerung. Analog wären das in Österreich beinahe drei Millionen Mitbürger, die entweder als zu alt oder zu krank etikettiert würden, um weiter ungehindert die Öffentlichkeit zu betreten.
Doch selbst, wenn weniger Menschen betroffen wären: In einer Demokratie darf keine Mehrheit einer Minderheit ihre grundlegenden Rechte verweigern. Und schon gar nicht dürfen die Starken entscheiden, was für die Schwachen das Beste ist. Auch wenn das im Umkehrschluss bedeutet, dass wir in den kommenden Monaten alle mit gewissen Einschränkungen leben müssen. Also keine Trennung in Supermärkten, Absonderung in Pflegeheimen oder Quarantäne für Menschen, die zwar krank sind, aber nicht an Covid-19 leiden. Stattdessen Masken auf, Hände waschen, Abstand halten und Rücksicht nehmen.
Massentests, Impfstrategie und Neustart der Corona-App: Die Politik kämpft derzeit an allen Fronten und mit verschiedenen Mitteln gegen die Corona-Pandemie. Den Satz „Der Tod gehört selbstverständlich zum Leben“ in diesem Zusammenhang zu verwenden, fällt nur zynischen Fatalisten ein und disqualifiziert diese gleichzeitig. Niemand erwartet von der Politik, alles richtig zu machen. Doch wer die Dinge einfach laufen lässt und am Ende feststellt, wer besser durch die Krise gekommen ist, macht es sich zu einfach. Merkel hat noch einen wichtigen Satz gesagt: „Wir haben es in der Hand, wir sind nicht machtlos. Und es war und ist nicht egal, was wir tun.“
In Österreich wären das beinahe drei Millionen Mitbürger, die entweder als zu alt oder zu krank etikettiert würden, um weiter ungehindert die Öffentlichkeit zu betreten.
Kathrin Stainer-Hämmerle
kathrin.stainer-haemmerle@vn.at
FH-Prof. Kathrin Stainer-Hämmerle, eine gebürtige Lustenauerin, lehrt Politikwissenschaften an der FH Kärnten.
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