Wir haben die Wahl
Man solle zur Corona-Bekämpfung Verfassungsrechte für ein höheres Gut einschränken, nämlich für die Gesundheit. Das hat die deutsche Journalistin Vanessa Wu in der Talkshow bei Anne Will gefordert. Der Satz klingt für manche unerhört, die Grund- und Freiheitsrechte sind uns heilig. Vanessa Wu hat dazu zitiert, dass in Vietnam, der Heimat ihrer Eltern, Corona überhaupt kein Thema ist. Wenige Neuinfektionen, volle Restaurants und Clubs. Man kann einwenden, dass Vietnam ein Einparteienstaat ist, ohne Pressefreiheit, quasi eine Diktatur, die Maßnahmen von oben befiehlt. Aber was ist mit anderen asiatischen Ländern wie Japan oder Taiwan, die Corona in den Griff bekommen haben? Mit einem straffen Maßnahmenkatalog, wie dem konsequenten Tragen von Masken. Was haben wir uns belustigt, wenn vor Jahren Japaner in Hallstatt oder Venedig mit Masken herumgerannt sind! Jetzt tun wir dasselbe. Nein, stimmt nicht. Wir tun uns selbst mit einer vergleichsweise einfachen Maßnahme schwer.
„Impfpflicht? Noch lehnen sie 83 Prozent laut Umfrage ab. Aber für einzelne Gruppen wird sie kommen.“
Die Einschränkung von Rechten ist auch in einer Demokratie legitim. Sie kommt durch Beschlüsse eines frei gewählten Parlaments zustande. Ein Grundrecht wie die Versammlungsfreiheit kann im Interesse der Gesundheit temporär eingeschränkt werden. Bei uns funktioniert die Gewaltenteilung. Der Verfassungsgerichtshof sorgt, wie zuletzt mehrfach, für die Einhaltung der Verfassung und pfeift die Regierung zurück. „Was läuft also schief, dass wir fast 700-mal höhere Infektionszahlen haben? Ist es unsere Regierung mit ihren halbherzigen Maßnahmen und ihrer chaotischen Kommunikation – oder ist es am Ende doch die Bevölkerung, die möglicherweise aus historischen Gründen ein Problem mit staatlicher Autorität hat und sich ungern was von oben sagen lässt? Vermutlich beides.“ Diese Sätze hat niemand in Österreich gesagt, wiewohl sie für uns noch viel mehr passen würden, sondern ebenfalls Frau Wu, die für „ZEIT online“ schreibt.
Ja, wir lassen uns nicht vorschreiben oder nicht einmal empfehlen, dass wir zum kostenlosen (!) Massentest gehen. Obwohl die Tests bei uns perfekt organisiert waren und viele unerkannte Corona-Fälle herausgefischt worden sind. Jetzt will die Regierung die Bereitschaft zu den für Jänner avisierten neuen Tests mit Gutscheinen für 50 Euro anheben. Sind wir noch zu retten, dass es einen finanziellen Anreiz braucht?
Nur knapp jeder fünfte Österreicher will sich gegen Corona impfen lassen (aktuelle Umfrage für die APA). Die Umfrage geht davon aus, dass 30 Prozent für eine Teilnahme mobilisiert werden können. Meilenweit entfernt von den von der Regierung angepeilten 50 Prozent und gar von den von der WHO empfohlenen 70 Prozent zur Erreichung der Herdenimmunität. Impfpflicht? Noch lehnen sie 83 Prozent laut Umfrage ab. Aber für einzelne Gruppen wird sie kommen. Erste Politiker wie der steirische Landeshauptmann fordern sie jetzt schon. Deutschland wird ab Mittwoch das öffentliche Leben drastisch herunterfahren. Österreich wird angesichts viel höherer Covid-Zahlen nicht darum herumkommen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass unsere Regierung jenes Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnt, das es im Frühjahr gegeben hat. Damals hatten, so der Politologe Peter Filzmaier, noch drei Viertel der Bevölkerung Vertrauen in die Regierung, jetzt weniger als ein Drittel. Die Leute kennen sich nicht mehr aus, meint er und fordert – in der ZiB 2 – klare und einsichtige Botschaften. Laufende Massentests und Impfen oder jahrelange Einschränkungen: Wir haben die Wahl.
Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landesdirektor, lebt in Feldkirch.
Kommentar